Walk the Pfeiler HAMMERTAG AM WALKERPFEILER: MIT DEN ALLERLETZTEN SONNENSTRAHLEN STIEGEN WIR AUF DEN GIPFEL DER GRANDES JORASSES. ERLEDIGT, ERLEICHTERT UND UM EINE EXTREME ERFAHRUNG REICHER.
Jetzt ist es soweit, wie lange haben wir den Namen schon im Kopf, markiert mit dem Etikett „saumäßig schwierig“, könnte auch sein, dass man den gar nie macht. Heute, an diesem Julitag, gehen wir tatsächlich mit unseren schweren Rucksäcken zur Leschaux-Hütte, den Walkerpfeiler vor uns. Für das erste Teilstück in der Montenvers-Bahn noch mit Mundschutz – Bergsteigen 2020 sieht ein bisschen anders aus.
Mundstücke, Fundstücke, Gletscherbrücke
Sieht eigentlich gar nicht so wild aus! Wird sich schon zurücklehnen! Schaut ja meistens alles steiler aus in der Draufsicht! Schnee schaut auch gut aus und überhaupt… ganz so hoch schaut er auch nicht aus!“
Diese Ansicht war gut, denn so waren wir überzeugt, dass wir es schaffen werden… auch wenn wir wussten, dass es nicht einfach wird. Kennt ihr nicht auch die ganzen Gruselgeschichten vom Walkerpfeiler? Klar: Für Profikletterer und Mixed-Experten ist das keine große Sache mehr, und wohl auch leicht in einem Tag machbar. Für „normale“ Alpinisten wie uns ist das aber eine große Nummer.
Way to go.
Moment, da erwähnen wir den ersten Haken: einen Tag. Nur so lange sollte das Wetter wirklich stabil und schön sein, tagsdrauf kündigen sich für den Nachmittag sehr sicher Gewitter an, die wahrscheinlich schon mittags vorbeikommen und vielleicht auch schon vormittags.
Freundlich begrüßen uns das Wetter und die Hüttenwirtin am späten Nachmittag auf der kleinen Leschaux-Hütte. Ein bisserl verfinstert sich ihre Miene, als sie uns erzählt: „Your friends didn’t come far.“ Das Fernrohr auf der Terrasse ist auf zwei Pünktchen am Walkerpfeiler gerichtet und davor stellen sich die Nordwand-Aspiranten an, um ihren Fortschritt zu analysieren. Mann wirklich, ungefähr bei der Hälfte sind die beiden erst. Schaut so aus, als ob die Verhältnisse vielleicht doch nicht ganz so super sind… Zwei Tage vorher gab’s ein ordentliches Gewitter. Eine Woche vorher sind die Seilschaften noch mit den Kletterschuhen vom Einstieg bis zum Ausstieg gekommen. Und in dieser Tour steht und fällt ja doch vieles mit den Verhältnissen. Oder alles.
Den kennen wir doch vom Gasherbrum 🙂
„Wir mussten jetzt schon achtmal von den Berg- auf die Kletterschuhen wechseln“, berichtet uns Martin am Telefon, als er sich im zweiten Cassin-Biwak auf die erste Nacht in der Wand vorbereitet. Sie sind aber guter Dinge für morgen. Bleiben wir es auch.
Experimentielle Küche: Curry-Couscous-Würstel.
Aus sechs mach vier
Von den sechs Seilschaften tauchen zum Frühstück um 00:30 Uhr nur noch vier auf. Am Abendessen wird’s wahrscheinlich nicht gelegen sein, die haben es sich wohl doch noch anders überlegt. Sollten wir auch…?
Nix da. Hinein in die Nacht.
Zwei Seilschaften machten auf super light and super fast und wie zwei Glühwürmchen folgen wir ihren Stirnlampen, die uns immer wieder eine Richtung leuchten: Gletscher-Hatsch, Gletscher-Bruch, und endlich Granit, wenngleich mit etwas Bruch. Um drei Uhr sind wir beim Einstieg, mit Bergschuhen geht’s noch im Finsteren am laufenden Seil dahin über Fels, nochmal Firn – zum ersten Stand neben der zweiten Seilschaft. Hinein in die Kletterschuhe. Andi startet los, nach dem das Seil spannt krabble ich hinterher.
Ein kurzer Ruck. Ein langes Fluchen. Stille.
„Hey Andi, was ist los? Alles gut?“
„Den nächsten Standplatz…
…schon im Visier stelle ich überrascht fest, das meinen Fingern beim Quergang dorthin irgendwie der Fels abhanden gekommen ist. Mein Gleichgewichtssinn meldet eine Kippbewegung nach links. Was für eine überflüssige Meldung! Das habe ich aufgrund der fehlenden taktilen Informationen meiner Fingerkuppen schon befürchtet. Zugegeben, ein wenig merkwürdig finde ich es trotzdem. Obwohl mein Körper nicht so sehr Sportklettern und das damit verbundene Stürzen trainiert ist, springe ich instinktiv erst mal leicht ab und drehe mich dabei zum Fels. Cool, Sportklettern ist keine vergeudete Zeit.
Jetzt, wo ich eine stabile Flugposition eingenommen habe, kommt mein Gehirn zu Wort und meldet Bedenken über die Platzierung des letzten kleinen Klemmkeils zirka vier Meter schräg unter mir. Diese Bedenken teile ich und warte vorerst mal auf den kleinen Ruck, wenn der Klemmkeil ausreißt. Danach werde ich einiges zu tun haben.
Der Ruck lässt auf sich warten. Dafür schnürrt es die Finger immer mehr ein. Ach, ich habe ja noch Seilschlaufen in der Hand. Okay, dann schau‘ ich mal, was ich damit halten kann. Die Fluggeschwindigkeit verlangsamt sich, nun meldet zwar der Daumen Bedenken um seine Festigkeit, aber im Hinblick auf die Verlangsamung des Sturzes sieht er schnell ein, dass Letzteres gerade Vorrang hat.
Ganz weich komme ich zum Stillstand. Der Klemmkeil hat gehalten. Wow Glück ge… klatsch. Vergleichsweise harmlos pralle ich dann doch noch zur Wand. Das überrascht mich zwar, aber ich nehme es wohlwollend zur Kenntnis. Ist ein guter Deal, wenn mir dafür ein schädlicher Langstreckenflug erspart bleibt.
Beim Aufrichten erwarte ich zwar diverse Schmerzen in den Rippen, doch auch die bleiben überraschenderweise aus. Blick auf den Daumen. Schaut krumm und lustig aus. Ist sicher kaputt. Lässt sich aber ohne große Schmerzen in alle Richtungen bewegen. Fein. Das Gehirn ordnet noch einen kurzen Systemcheck an. Das positive Ergebnis wird eine knappe Sekunde nach Flugbeginn mittels lauten Flüchen zuerst der dunklen Nacht der Grandes Jorasses Nordwand mitgeteilt und dann Marlies. Bei ihr war die vorige Sekunde abgesehen von einem kleinen Zupfer am Seil und einem großen Fragezeichen im Kopf recht wenig ereignisreich.
Schnell klettere ich wieder hinauf. Noch bevor mein Gehirn an der verhängnisvollen Passage im Quergang weiß, was es sagen soll, bin ich schon drüben beim Stand. Ganz glauben kann ich’s noch nicht, dass ich einen 15 Meter Nachtflug in alpinem Gelände samt 13 kg Rucksack am laufenden Seil ohne ernstzunehmende Verletzungen überstanden habe.“
Licht ins Dunkel
Ach du heilige Sch… Wir wissen beide, dass das anders hätte ausgehen können. Sicherheitshalber verrät mir Andi vorerst nicht, wie weit er geflogen ist – gesehen hatte ich ja nix, es war stockdunkle Nacht, der Mond nur eine Sichel. Aber der Schock steht in Andis Gesicht geschrieben und das Seil hat sich in seiner Hand eingraviert. Hey Schatz, geht’s dir auch wirklich gut?
Dieser Mann im Speziellen und der menschliche Körper im Allgemeinen sind schon echte Wunderwerke. Es gibt nur einen Weg. Nach oben. Und das scharfe Seilende will Andi auch behalten. Wär nett gewesen, wenn die Schlüsselstelle erst dann kommt, wenn sein Kopf etwas länger durchatmen konnte. Doch die klettertechnisch anspruchsvollste Stelle wartet ausgerechnet jetzt, direkt vor uns liegt der Rebuffat-Riss (VI+ oder VI A1 laut Topo). Es dämmert langsam, als die Seilschaft vor uns in gerader Linie darüber hinauszieht. Sollte man hier nicht nach rechts in den Allain-Riss queren? Auch Andi zweifelt, gerade hoch, doch wieder hinunter. Mit Auschecken und Ausrasten bleibt auch direkt drin und quert nicht wie in den Topos beschrieben nach rechts in den Allain-Riss. Ohne Rucksack, ohne moralischen Dämpfer und gut akklimatisiert wär das vielleicht schön zu klettern. So ist es einfach hart.
Im Rebuffat-Riss.
Wir versuchen, wieder in einen Fluss zu kommen, doch das Gelände und der Kopf laden nicht hundertprozentig dazu ein. Irgendwie will da jede Seillänge erkämpft sein.
Wieder auf Steigeisen. Heikle Quergänge. Das kostet Zeit. Ist ernst und kaum abzusichern. Einfacher macht es, dass wir Spuren im Schnee finden. Und dass die Sonne zum Vorschein kommt, verleiht der Nordwand zumindest einen freundlicheren Touch.
In der schönen 75-Meter-Verschneidung.
Die gewaltige 75-Meter-Verschneidung können wir wieder in Kletterpatschen antreten – genießen leider nicht, dazu wirkt die Schwerkraft zu sehr. Ein paar eisige Stellen lassen sich umtänzeln – und rund um die Fixseil-Passage wird’s wieder grimmig, nicht dass wir uns an guten Fels und gute Absicherung gewöhnen.
An und entlang von wild zerfransten Strängen arbeiten wir uns hinunter, hinauf und wieder höher. Vom Genussklettern sind wir ungefähr so weit weg wie ein Vegetarier vom Verspeisen eines Beuschels.
Es wird trockener, kompakter, steiler, bleibt ordentlich zum Anhalten – und die direkten Meter am Grat laufen endlich so dahin, wie wir uns das vorgestellt haben.
Metermachen im Mittelteil.
Na geh… was macht der Hubschrauber da?
Hoffentlich ist nix passiert! Denken wir uns und beobachten, wie der Hubschrauber mit einem Retter am langen Tau den Beginn des Firnfeldes im letzten Viertel anfliegt. Zurück kommt er alleine. Noch einmal zieht er hin – und alleine wieder zurück. Komisch.
Wie wir am nächsten Tag erfahren werden, war das ein Lieferservice: Ein Bergführer hatte ein Steigeisen verloren. Anstatt sich ausfliegen zu lassen, hat er sich Ersatz aus der Luft bringen lassen. Auf diese Idee muss man erstmal kommen!
Es ist auch wirklich eine Kunst, hier nichts abzuwerfen. Vor allem beim häufigen Schuhwechsel reicht eine kleine Unachtsamkeit und man hat ein großes Problem. Zu Beginn des Firnfelds schnüren wir auch wieder um. Über aufgeweichten Schnee und vereiste Stellen geht’s zum Roten Kamin – und dort erwartet uns spannendes Mixed-Gelände. Dass wir die Kletterschuhe für den Rest der Tour gar nicht mehr anlegen werden, dass ahnen wir hier noch nicht. Immerhin können wir dann die Bergschuhe nicht verlieren… Ist ja auch ein großer Vorteil.
Firn, Fels, Eis.
Zu unserem Glück ist vom Tag noch immer etwas übrig – von der Tour aber auch. Wir kommen der italienischen Dreier-Seilschaft immer näher, die am Tag vor uns eingestiegen ist. Von Martin, mit dem wir vor einem knappen Jahr vom Mont Blanc geflogen sind, ist nichts mehr zu sehen – er ist bestimmt schon im Abstieg, denken wir – und sollten recht behalten, sehr geil, heute kamen sie viel schneller voran!
Die Sonne senkt sich zum Horizont, ein bisschen einen Weg hat sie aber noch.
Vor uns liegen noch immer ein paar Hände voller Seillängen – aber die größten Schwierigkeiten liegen hinter uns. Das Ausstiegsgelände wird einfacher – die letzten Längen, damit’s nicht fad wird, wieder zum Steigeisenkratzen. Neben unseren italienischen Amigos klettern wir gleichzeitig dem Ausstieg entgegen. Dem Ausstieg zum Gipfel.
Purer Wahnsinn.
Mit den allerletzten Sonnenstrahlen machen wir die allerletzten Schritte auf den Gipfel. Ein Zug über die Wechte – und wir fallen uns erledigt und erleichtert in die Arme. Walkerpfeiler, Baby! Der Plan ging auf.
Pünktlich zum Sonnenuntergang am Gipfel.
Ein ordentlicher Wind pfeift uns um die Ohren. Wir steigen zur ersten Felsrippe hinab, an dessen Beginn wir neben den Italienern unsere Matte ausrollen. Zwei Quadratmeter zwischen Sternen und Abgrund fühlen sich nach 16 Kletterstunden an wie ein Himmelbett. Zum Kochen sind wir zu müde, wir beißen noch in eine Landjäger und verkriechen uns im Schlaf- und Biwaksack.
Die Nacht ist zum Glück sternenklar. Und der Abstieg, den ich von der Grandes-Jorasses-Überschreitung vor ein paar Jahren als ziemlich mies in Erinnerung habe, läuft ziemlich gut.
Morning glory.
Der Abstieg ist komplex, aber der Gletscher noch kompakt und mit einer Mischung aus Abklettern, Abseilen und zügig unter den Seracs queren erreichen wir am Vormittag die Boccalatte-Hütte.
Ein Bier vor vier?
Jep, heute genehmigen wir uns um zehn Uhr vormittags eins 😉
Prost!
Nicht mehr weit, aber noch ordentlich mühsam wird der Weg ins Tal. Andi spürt langsam doch, dass er seinem Körper einiges zugemutet hat.
Durstlöschen.
Hinein in die nächste Bar – und zufällig sind Freunde ums Eck, die uns im Val Ferret abholen und mit uns am Nachmittag das vierte Bier des Tages trinken. 😉
In Courmayeur gibt’s noch Pizza und Aperol – und mit dem letzten Flixbus des Tages geht’s um 8,99 Euro zurück nach Chamonix.
Wie genial, dass wir uns am nächsten Tag schon wieder im eigenen Bett wälzen dürfen (Andi etwas vorsichtiger…) – ganz ohne zehn Stunden und hunderte Kilometer nach Hause fahren zu müssen. In Chamonix gehören die Campingbusse der Kletterer genauso zum Ortsbild wie der Mont Blanc. Wir bleiben wohl noch ein bisschen länger hier.
Am Tag danach.