Taghia-Schlucht: steil, scharf, schön
KLETTERN IN MAROKKO. IM WINTER. IN DER WUNDERBAREN TAGHIA-SCHLUCHT MACHEN UNS TIEFE TEMPERATUREN UND HOHE WÄNDE SPRACHLOS. WIR WÄRMEN UNS MIT KANNENWEISE BERBER WHISKY – UND DER HERZLICHKEIT DER LOCALS.

Als wir mit unserem Wohnmobil auf den marokkanischen „Straßen“ schlussendlich nicht mehr weiter kommen, satteln wir auf einen Esel um. Immerhin haben wir Zaouiat Ahansal im Norden des Hohen Atlas erreicht – das hat bei den Fluss überspülten Schotterpisten und Fußball großen Schlaglöchern zwischendurch nicht mehr danach ausgesehen… Inschallah!

Der Esel und sein Mohamed reiten nach Taghia
Im marokkanischen Himmel
Nach zwei Stunden kommen wir mit Mohamed und seinem Esel in einer anderen Welt an. Im abgelegenen Berberdorf Taghia ragen noch viel schönere, steilere und schärfere Felswände in den nordafrikanischen Himmel, als wir uns erträumt haben. Oh yeah, das Durchhaltevermögen von uns (und viel mehr von unserem Bus!) hat sich ausgezahlt!

Herrlich – zumindest einmal kitzeln uns Wintersonnenstrahlen bis auf’s T-Shirt
Klettern? Im Winter?
Eigentlich ist es im Jänner viel zu kalt, um in der Taghia-Schlucht zu klettern. Wir haben’s trotzdem gemacht. 😉 Neben frostiger Finger bekamen wir unvergessliche Einblicke ins Leben der Berber und eine selten schöne Einsamkeit in den Wänden ringsum.

Doch der Reihe nach: Als wir im südspanischen Algericas mit unserem Wohnmobil um 140 Euro auf die Fähre rollen und über die Straße von Gibraltar schippern, sind wir verblüfft, wie einfach es geht, den Kontinent zu tauschen. Wir brauchen kein Visum, den Stempel für den Reisepass holen wir uns gleich am Schiff – und schon rollen wir in Tanger Med auf afrikanischen Boden. Einmal muss unser Bus noch durch ein Lkw-großes Röntgengerät – das Bier und die Drohne hat es nicht entdeckt 😉 Die abschließende Frage eines Polizisten „Do you have a drone?“ haben wir natürlich kopfschüttelnd verneint. Grünes Licht für unsere Reise durch Marokko!
MAPS ME ZUR TAGHIA-SCHLUCHT
Dass es in Marokko mit den Straßen und der Navigation nicht ganz so einfach wird, haben wir von diversen Offroad-Reise-Referenten schon erfahren. So ganz eng sehen wir die „Reisewarnung“ aber nicht – Google Maps und Maps Me werden den schnellsten Weg nach Zaouiaout Ahnsal schon wissen! Den Ort, wo wir angesichts des schönen Winterwetters unseren ersten Stopp einlegen wollen – und den Ort, wo wir dann definitiv nur noch zu Fuß und mit einem Esel weiter kommen.
Sagen wir so: Die letzten 40 Kilometer auf der gut zehnstündigen Anfahrt zählen wir dezent angespannt Kilometer für Kilometer herunter und kommen mit unserem Fiat Ducato Kastenwagen an seine Unterboden-und-Achsen-Grenzen und nur noch im Schritttempo voran. Ungefähr bei Kilometer 19 passieren wir Fluss-gefüllte Schlaglöcher, wo wir wissen: das ist ein Point of no Return. Und der Punkt, an dem Andi einsehen muss: Nur wenn eine marokkanische Straße einen Buchstaben mit Ziffern trägt, heißt das noch lange nicht, dass sie auch befahrbar ist. 😉 Immerhin haben wir unsere eigene Wohnung dabei und genug Wasser, Essen und Kletterausrüstung. Gleich ums Eck steht die „Cathedrale Amesfrane“ – ein sehr imposanter Felszahn, der erst 2016 eine erste Route durch seine Mega-Konglomeratwand bekam. Aber das sollten wir eigentlich erst viel später erfahren…

Cathedrale Amesfrane – irgendwo im marokkanischen Nirgendwo
Nur noch 3… 2… 1… Bier!
Durchatmen. Da ist ja manche Klettertour weniger spannend als diese Anfahrt! Am nächsten Morgen holen uns ein Esel (namenlos) und sein Treiber (der Mohamed) ab und laden unsere Rücksäcke auf. Die 100 Dirham (ca. 10 Euro) für die Unterstützung beim zweistündigen Anmarsch nach Taghia lassen wir doch gerne als Wertschöpfung im Ort. Auf sein Smartphone und WhatsApp blickend reitet der Mohamed auf dem Esel taleinwärts. Irgendwann muss er aber seinen Kopf einziehen. Da verengt sich die Schlucht auf wenige Meter und auf einmal taucht der Oujdad vor uns auf.

Wie eine Pyramide steht der Berg über dem Berberdorf – und linkerhand und rechterhand werden sich noch tiefe Schluchten öffnen mit noch höheren Felswänden links und rechts. Wenn Mohamed in unser Gesicht schaut, sieht er jetzt auch eine tiefe Schlucht. Uns steht der Mund staunend offen!

Hier haben keine Kinder Farbtöpfe umgekippt. Die Natur malt mit solchen Farben!
Wilde Kerle, sanfter Tourismus
Taghia liegt in der selben Zeitzone wie Österreich. Die Uhren ticken hier trotzdem um Welten langsamer. 90 Häuser und 600 Einwohner zählt das Bergdörfchen. Unter den Häusern finden sich vier Gites (Herbergen) – und eine davon steht sogar SEO-optimiert im Internet. Der Sohn von Said, quasi dem Gastgeber der allerersten Kletterer, studierte in Marrakesch Informatik und baute für sein Home gleich eine Page. Vor dem Jahr 2000 gab es noch keine einzige Gite im Tal (und auch kein Internet). Erst im neuen Jahrtausend ging der Kletter-Tourismus sanft los – bis immer wildere Kerle und Frauen von den faszinierenden Felswänden Wind bekamen.

Honnold und der Ziegenpeter
Erst Franzosen, dann die Spanier bis hin zu den Weltbesten, die mit extremen Erstbegehungen ihre Spuren hinterließen: Vom Alex Huber über Ines Papert bis hin zu… „Conaissez-tu Alex Honnold?“, will der Mohamed wissen. Diese Frage wird uns noch öfters gestellt werden – so auch von einem Ziegentreiber, den wir im Abstieg von der Klettertour „Haben Oder Sein“ treffen. Taghia ist offensichtlich stolz, dass Alex Honnold zu Gast war – und ebenso froh, dass er nach seinem Free Solo durch die „Les Rivieres Pourpres“ eigenständig wieder talauswärts gehen konnte.

Finde den Esel
Ein Tal, zwei Touristen
Zur Haupt-Hauptsaison im April und Mai ist Saids Gite mit bis zu 50 Personen oft ausgebucht. Wir sind an diesen Jänner-Tagen die einzigen Gäste – im ganzen Tal. Die Traditionen werden beibehalten: Zum Frühstück gibt es das leckere, hausgemachte Fladenbrot mit Marmelade oder Fake-Nutella und zum Abendessen werden eine gelbe Suppe und die traditionelle Tajine serviert. Jeden Tag dieselbe gelbe Suppe, wohlgemerkt. Schon seit Jahren. Der Routennamen „Hard Swing and Yellow Soup at 20:30“ kommt nicht von ungefähr 😉 Mit genügend Zeitabstand heben danach entweder Said oder Fatima den Deckel der Tajine, des marokkanischen Schmortopfs. Der nach Gemüse duftende Rauch steigt in alle Gesichter und verflüchtigt sich schnell im kalten Aufenthaltsraum.

Zu Gast bei Said – wie schon viele Kletterer vor uns
Wir sitzen hier mit zwei Pullis und zwei Jacken und schmökern in Topos und im liebevollen Kletterführer von Christian Ravier, der 2019 eine Neuauflage bekam. Ein Gasherd ist unser Luxus und bringt zumindest die körpernahe Temperatur auf mehr als die umgebenden fünf Grad Plus. Die maunzenden Katzen (beide namenlos) haben Glück, dem glühenden Kasten nicht zu nahe zu kommen. Schmorkatze fehlt noch in der Tajine-Auswahl, bei der lediglich die Beilagen (Nudeln, Couscous, Fladenbrot) und die Art des Fleisches täglich wechseln.

Wenig Abwechslung gibt’s auch bei den Temperaturen. Die Grade klettern nur in der Sonne in den zweistelligen Bereich und rutschen in der Nacht leicht ins Minus. Dass es kalt wird an diesen Jännertagen, das war uns natürlich bewusst. Nicht ganz so klar war uns, dass es sehr schwierig wird, Sonnenseiten zu finden – beziehungsweise diese schon nach einem Tag „abgeklettert“ sind (zumindest im für uns machbaren Schwierigkeitsbereich). Dass in die Schluchten kaum Sonnenstrahlen fallen und Westwand nicht gleich Sonne am Nachmittag heißt, das haben wir in unserer Vorfreude auf ein paar sonnige Wintertage ganz einfach ausgeblendet 😉
ANHALTEND STEIL
Im ganzen Gebiet hebt man erst so wirklich im siebten Schwierigkeitsgrad ab. Es gibt zwar auch einfachere Routen, die stecken aber eher in der Schublade Abenteuer-Gelände und haben einen Haken – sprich: kaum Haken. Wir klettern uns nach dem Anmarsch gleich hinter Saids Gite am Paroi de Sources warm – dem Berg, aus dem die Quelle kommt und das ganze Dorf mit Wasser versorgt. Das mit dem Warmwerden klappt zwar nicht mit den Temperaturen, aber immerhin mit dem Fels! So anders, so gut! Am nächsten Tag landen wir am „Cascade“ sogar eine ganze Route lang in der Sonne. Das ist doch schon mehr, als wir uns erhofft haben – und Taghia hat unser Herz erobert.

In der „Haben oder Sein“

Unsere Strategie für all die anderen Tage – vor allem im Canyon in der wunderbaren Route „L’Allumeur du Rêve Berbère“ – ist folgende:
• a) eine lange Unterhose an
• b) mit Socken in die Kletterschuhe (jep uncooool… ;-))
• c) drei (Andi) bis fünf (Marlies) Schichten am Oberkörper überziehen (sodass halt noch der Klettergurt darüber passt ;-))
• d) dicke Haube unter den Helm
• e) am Stand angekommen gleich mal die Handschuhe an
• f) wahlweise noch den Rucksack mit, damit zumindest der Rücken warm bleibt 😉

WO EIN BERBER, DORT EIN WEG
Mit diesem Style-Fail halten wir es vier Tage lang in vier großteils coolen Klettertouren aus. Jede Route hatte etwas für sich – von genial scharfer Leistenkletterei über Verschneidungen bis hin zu spannenden Zu- und Abstiegen. Die Weg-Konstruktionen der Berber sind zwischendurch kleine Mutproben und verlangen Gottvertrauen. Hält? Hält nicht!? Inschallah! Tja, die Klettertour ist erst geschafft, wenn du abends vor deiner Tajine sitzt! Das gibt dem Gesamterlebnis aber gleich noch einen Stern dazu.

Wo ein Berber, dort ein Weg
Ein Hoch auf die Baraka
Wir werden uns noch lange zurückerinnern – auch an die 16 Seillängen der „Baraka“. Sie führen schnurstraks durch die Südwand des Oujdads. Das erste Drittel durchaus knackig – und für uns grenzwertig im Schatten. Anstatt auf eine Rotpunkt-Begehung achten wir auf Geschwindigkeit – und dieser Plan geht voll auf. Wir sind nach abermals interessantem Abstieg rechtzeitig zurück zum vorabendlichen Berber Whiskey, dem zuckersüßen Minztee, und dem Fladenbrot, das mit Olivenöl gereicht wird. Zwei „Austrian Whiskey“ haben wir zum Anprosten auch mit eingeschleust – dem Donkey sei Dank 😉

Ein Hoch auf die Baraka – ein ganz schöner Pracker!
Taghia, wir kommen wieda!

Einen Augenblick bitte…