Salut Piz Palü!
SKI&FLY: 13 SONNENSTUNDEN, 0 ARBEITSSTUNDEN – DIESER 1. MAI MUSSTE FÜR EIN TIME OUT GENUTZT WERDEN! AUF DEM WEG ZUM KLETTERN INS VAL DI MELLO SAGTEN WIR SALUT ZUM PIZ PALÜ – UND SO VERGING DIE LETZTE (!?!) SKITOUR UNSERES WINTERS TROTZ 2000+ HÖHENMETER WIE IM FLUG.

Bei der Talstation der Diavolezza-Seilbahn oberhalb von St. Moritz gehen uns früh morgens zwei Lichter auf. Erstmals, als wir an der Stirnlampe den richtigen Knopf erwischen, und zum zweiten Mal, als wir in ihrem Lichtkegel leichtfüßig lostraben und feststellen: So einfach kann Skitouren sein?!

Wir schreiben den 1. Mai 2019. Und die 1. Pisten-Skitour dieses Winters.
Ziehhh links, ziehhh rechts – immer entlang der geplätteten Rillen, die eine tonnenschwere Pistenraupe in den Schnee gefräst hat, und nicht die eigene Oberschenkelmuskulatur.

Keine Spurarbeit, keine Orientierungsschwierigkeiten, keine alpine Gefahren – die 800 Höhenmeter bis zur Diavolezza-Bergstation sind fast so geschenkt, als hätten wir zweieinhalb Stunden später die Seilbahn genommen (die es natürlich nicht ganz geschenkt gibt, wir sind doch in der Schweiz, aber das ist eine andere Geschichte). Ich denk’ an die glückliche Dori, die neben Nemo durch die Ozeane gleitet: „Einfach schwimmen, schwimmen, schwimmen.“ Nach vielen Terminen gehen wir für ein paar Tage ganz einfach mal auf Tauchstation. Herrlich, wieder einmal auf (Hoch-)Tour einen Tag erwachen zu sehen!

Plan A und B und C
Nur ein kleines bisschen müssen wir uns (wieder einmal) das Leben schwer machen: Unsere Gleitschirmausrüstung bestehend aus SuSi3, einem Leichtgurtzeug und dem Rettungsschirm fallen mit 3,5 Kilogramm zusätzlich ins Rucksackgewicht, ein paar mobile Sicherungsgeräte nochmal mit ein paar hundert Gramm mehr. Der Plan A war für uns Entscheidungsfaule wieder einmal, Plan B und Plan C miteinzupacken: Vielleicht könnten wir B) ja mit dem Gleitschirm vom Gipfel starten und C) ja noch den Ostpfeiler klettern?

Pack, Eselchen!
Wer die Wahl hat, hat die Qual. Vielleicht hat der Nemo deshalb nichts zu Essen dabei, um ein bisserl leichter unterwegs zu sein. Außerdem ist auf sie Verlass, hat ja eh immer für zwei eingepackt…
Piz Pulver
Die Frühaufsteher vom Diavolezza-Berghaus sind uns voraus und pflügen dieser monumentalen Berggestalt bereits durch den frisch gefallenen Pulverschnee entgegen. Wir bleiben bei der Anhöhe der Diavolezza stehen, um unsere Felle für eine kurze Abfahrt von den Skiern zu nehmen – und um zu staunen.

Wow-Moment #1
Drei markante Pfeiler tragen den Piz Palü auf seiner Nordseite zum Himmel, sie leuchten in der Morgensonne abgöttisch schön. Die eisigen Temperaturen lassen uns aber noch nicht ganz so Feuer und Flamme werden für die Kletterei am Ostpfeiler. Sieht zieeemlich zapfig aus!
1. Mai – und der 1. Massenauflauf dieses Winters
Nach vier Stunden hat unser Freischwimmen ein Ende. Nach den ersten bizarren Eistürmen, die aus dem Gletscher ragen, holen uns die ersten Bahnfahrer ein. Schnell waren die! Oder etwa wir so langsam? Irgendwie beginnt sich der Anstieg langsam zu ziehen wie ein Kaugummi, der zwischen unserer Skischuhsohle und der Bindung klebt. Oder ist da etwa gar nichts?

Wow-Moment #2 und #3
Leider geil? Oder besser doch nicht?
Wie gut, dass sich immerhin zwei Knuspis und zwei Fruchtriegel in meinem Deckelfach finden! Da ging Nemos Taktik wieder einmal voll auf. Kurze Pause und Lagebesprechung: Wollen wir hier nach rechts queren? Oder sind wir gar schon etwas zu hoch angekommen? Unsere Motivation, den Ostpfeiler zu klettern, schwankt ziemlich undefinierbar zwischen Leider-Geil und Besser-Doch-Nicht. Meine Vorfreude, mit Ski UND Schirm am Rücken Stellen bis in den vierten Schwierigkeitsgrad zu klettern, ist heute nicht ganz so ausgeprägt. Dazu ist Andis Atem eher kurz als lang. Gerade sinnierend über Sinn und Unsinn dieses Abstechers werden wir von den Massen mitgerissen in einer perfekten Spur. Und da biegt doch tatsächlich mein Schweizer Bergfreund Christian um die Spitzkehre! Mehr als 30 Viertausender der Alpen durfte ich mit ihm gemeinsam besteigen, nach fast zwei Jahren treffen wir uns hier auf dem Fast-Viertausender, der hinter seiner Haustüre in Pontresina steht. Eine helle Freude! Mittlerweile ist der Christian Bergführer und hat zwei flotte Gäste dabei.

Gruppenkuscheln.
Schneller als erwartet sind die letzten Höhenmeter bis in die Scharte verflogen. Manchmal fallen Entscheidungen, ohne dass man sie wirklich fällt. Der Blick zurück raubt uns den Atem – Berge über Berge und von Zivilisation keine Sicht! Also fast keine Sicht… Rund 100 andere Skitourengeher machen sich heute ebenso zum Piz Palü auf, geschätzt die Hälfte deponiert am Fuße des Ostgipfels ihre Skier. Trotz dieses Massenansturms läuft alles überraschend überschaubar ab.

Gratgenuss
Stairway to heaven
Bei uns kommen die Skier auf den Rücken – da war doch noch Plan B! In guter Spur geht’s auf den ersten Höhepunkt des Piz Palü – und in noch besserer Spur bis auf den Hauptgipfel. Heute gibt’s auf diesem ansonsten stark ausgesetzten Firngrat gar kein Fürchten, sondern nur ein Freuen. Höchster Genuss, über diese Himmelsleiter zu steigen.

Stairway to heaven
Im Tal dürften soeben die Mittagsglocken läuten, hier schlägt unser Herz langsam schneller. Oh ja, das können wir versuchen: direkt vom Hauptgipfel mit dem Gleitschirm zu starten! Der Wind passt phasenweise richtig gut. Nur zwischendurch bläst er mäßig bis mau.
Startklar?
Andi steht schon in den Startlöchern, während ich noch meine Steigeisen und Skistöcke im Rucksack verstaue. Alles kommt hinein – den dünnen Gleitschirmleinen nur keine Angriffsfläche bieten. Während ich mich bereit mache, steuert ungefähr ein dutzend Skitourengeher an uns vorbei – Hochbetrieb auch auf der Überschreitung. Das wär’ doch noch ein Plan D, denk ich mir, aber verwerfe ihn gleich wieder: Der Startplatz auf dem Hauptgipfel ist nämlich riiiichtig fein. Anfangs flach wird er langsam steiler – ein Startabbruch wäre hier gut möglich. Was uns bei diesem leicht drehenden und mäßig starken Wind gut in die Karten spielt.

Auf zum Hauptgipfel, unseren Startplatz
Als der Wind passend von vorne kommt – aus Norden –, skilaufe ich los. Der Schirm füllt sich mit Luft, ich skate – er kommt gut hoch, ich laufe weiter – und plötzlich kippt er seitlich weg. Abbruch. Mist. Zu wenig Speed. Zu flach. Neuer Versuch. Andi ist dankenswerterweise mein Starthelfer, legt meinen Schirm nochmals auf – und das Spiel beginnt von vorne. Der Wind ist stark. Bitte warten. Lau! Ich lauf los! Der Schirm öffnet sich schön – und dreht wieder weg. Große Korrekturmöglichkeiten, ein geschwindes Unterlaufen zum Beispiel, habe ich mit Skiern an meinem Beinen auf diesem flachen Hang nicht. Oh no!
Nochmal. Ein Pokern.
Wieder Abbruch.
Was tät’ ich bloß ohne Andi! Eine Nervenprobe. Ich kann mich nicht erinnern, je so viele Startversuche gebraucht zu haben. Aber es muss einfach perfekt passen. Also noch ein Versuch. Diesmal bereits im steileren Gelände, wo ich gleich abheben kann, wenn der Schirm schön über mir steht.
Yihaaaaaaa!!!
Geht doch! Das markante Nordwandgesicht des Piz Palü lacht zu mir herauf, mein Blick staunt über eine Gletscherlandschaft – und visiert das Berghaus Diavolezza an. Reicht mein Gleitwinkel, um direkt darüber hinweg zu schweben? Viel Höhe habe ich nicht! Oder soll ich besser rechts am Piz Trovat vorbei Richtung Berninapass abbiegen? Oder im Zweifelsfall darunter am Gletscher landen?

Endlich in der Luft
Kurz ein Schulterblick – Andi!? Von ihm ist noch nichts zu sehen. Ich hoffe, dass ihm der tricky Start auch alleine gelingt. Oder könnte ihm ein anderer Skitourengeher helfen? Mein Blick richtet sich wieder nach vorne zur Diavolezza: Cool, das geht sich aus! Anders als beim Klettern liegt beim Fliegen insofern noch mehr Spannung in der Luft, weil man sich vor einem kniffligen Zug nicht ins Seil setzen kann und durchschnaufen, weil man haarige Situationen nicht mit seinem Partner besprechen kann. Die Entscheidung triffst nur du, die Fäden liegen in deiner Hand. Hier. Und Jetzt.

Hier und jetzt liegt viel Ruhe in der Luft. Seelenruhig gleite ich über diese gewaltige Gletscherlandschaft hinweg. Von links schauen die Walliser 4000er ins Engadin herüber, nach rechts reiht sich eine Gebirgskette an die andere. Unter mir am Gletscher sehe ich zwei Kleinflugzeuge, die dort gelandet sind. Was macht ihr denn bitte hier? Der Blick schweift wieder nach vorne – wie cool! Die Talstation der Diavolezza-Bahn schiebt sich in mein Blickfeld, daneben steht unser Bus. Kurz herrscht in mir noch einmal erhöhte Anspannung, bis ich ausgecheckt habe, dass der Talwind heute auf der sanften Seite ist und mir sämtliche Seilbahn- und Hochspannungsleitungen nicht in die Quere kommen können. Ein paar sanfte Kreise, und plötzlich flieg’ ich nicht mehr, ich fahre. Setze auf meinen Skiern auf, bringe den Schirm zu Boden – und schaue zum Himmel. Andi?

Happy landing bei der Diavolezza-Talstation
Ich warte und hoffe. Minutenlang. Und plötzlich hab ich keine Kontrolle mehr. Laut kommt es aus mir hinaus.

Jihaaaaaa!!!
Da ist er! Wie ein Vogel dreht er seine Kreise und landet direkt neben unserem Nest. Es ist 13 Uhr – noch viele Sonnenstunden übrig an diesem Tag. Wir trocknen die Schirme, chillen in den Klappstühlen vor unserem Bus. Wir starren unsere Skier an: Ihr Lieben, danke für die Begleitung durch diesen intergalaktischen Winter! Jetzt geht’s aber in Richtung Sommer! 🙂

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Marlies Czerny
Credits:
www.hochzwei.media/Andreas Lattner und Marlies Czerny

Einen Augenblick bitte…