Das Matterhorn im Winter

Die erste Matterhorn-Besteigung des Jahres 2017 gehörte uns. Ganz alleine. Dafür haben wir sogar Silvester verschlafen im neuen Winterraum. Die Winterbesteigung des Hörnligrats: Ein Traum.

1. Jänner, 11 Uhr, noch 100 Höhenmeter bis zum Gipfel des Matterhorns. Wir schnaufen wie eine Dampflok, die Steigeisen fühlen sich wie bleierne Bremsklötze an den Beinen. Dort, wo man im Sommer über eine ausgetrampelte Firnspur ansteigt, hat der winterliche Wind die kalte Schulter des Hörnlis offenbart. Bröseliges und abschüssiges Fels-Eis-Gelände. Im Grunde ist dieser Untergrund gut gangbar – würde man nicht wissen, bei einem falschen Schritt 2000 Höhenmeter weiter unten zu landen. Jeden Schritt, den wir mühsam aufwärts setzen, müssen wir auch wieder abwärts gehen – kein hilfreicher Gedanke. Die Uhr tickt an diesem kurzen Wintertag. Die Zeit, die wir uns für den Aufstieg gegeben haben, läuft ab. Andis Stirnlampe ist schon im Aufstieg der Saft ausgegangen – langes Herumeiern und Wegsuchen im Finstern wird es da nicht spielen. Verdammt ist das hart! Was sollen wir tun?

UMDREHEN? ODER NOCH EIN PAAR MINUTEN IN DEN TRAUM VOM GIPFEL INVESTIEREN?

Gehen wir noch ein paar Schritte… Doch erst noch einmal zurück: 31. Jänner, 5 Uhr früh, dritte Kehre der Pfitscherjochstraße, Südtirol. Wir erwachen in unserem Campingbus am Ausgangspunkt des Vortrages, die Beine sind müde. Nach (zu) vielen Tagen im Flachland mit Augen-Operation, Weihnachtsvöllerei, Adventkalender-Gestalten, Marlies‘ letzten Redaktionsalltagen, da war der Drang nach frischer Bergluft riesig. Zur Einstimmung auf unseren Kurzurlaub wählen wir die Hochferner-Nordwand. Läuft alles super – nur unser ultraleichtes Flugobjekt Ufo müssen wir angesichts der Windverhältnisse die 1700 Höhenmeter hinunter tragen statt fliegen. Also zu Fuß zum Bus. Kochen. Wein trinken. Führer schmökern. Überlegen, wo wir Silvester verbringen. Noch keine Eingebung. Die Entscheidung vertagen wir. Und so liegen wir nun am frühen Morgen des Silvestertages unter dem Aufstelldach des Buses.

Die Erleuchtung…

WARUM NICHT DAS MATTERHORN VERSUCHEN?

Schon vor ein paar Tagen kam uns diese Idee in den Sinn. Die Webcam-Bilder zeigen wenig Schnee. Da liegt manchmal sogar im Sommer mehr! Es war tagelang trocken. Könnte funktionieren. Genaue Infos haben wir leider keine. Zwischendurch haben wir es gerne, uns an Projekte zu wagen, deren Realisierung in den Sternen steht. Erfolgsaussichten? „30:70“, sagt Marlies, die schon einmal Bekanntschaft mit dem berühmtesten Schweizer Fotomodell machte (via Zmuttgrat). „60:40“, meint Andi, für den es das erste Mal werden soll. Es tickt schon wieder die Uhr. 5:30 morgens. Und Zermatt liegt zirka sieben Auto-Stunden weit weg vom Tiefpunkt des Hochferners. Und was wenn… Wir Silvester einfach gemütlich verbringen, wie normale Menschen auch? So mit Raclette oder Fondue? Marlies ist für alles zu haben. „Versuchen wir’s“, sagt Andi. Die letzte Nacht in diesem Jahr verbringen wir also im Winterraum der Hörnlihütte…

Knapp 600 Kilometer weiter steigen wir in Täsch aus unserem Bus. Rucksack packen, checken, dass Marlies ihren Hochtourengurt im Abstieg vom Hochferner verloren hat, kurz fluchen, stattdessen zum Sportklettergurt greifen (Mist, ist der schwer!), in den Zug nach Zermatt steigen, zur Seilbahn huschen, zwischen Skifahrern hinauf bis zum Schwarzsee gondeln – und hoffen, dass wir noch ein paar Meter des Hörnligrates im Tageslicht erkunden können.

Hey, da kommt uns jemand entgegen! Es sind zwei fitte (aber sowas von fitte!) Schweizer – zumindest einer ist offensichtlich Bergführer mit seinem Emblem auf der Brust. Die beiden sind zu Silvester mal schnell als Tagestour auf ihren berühmten Hausberg geklettert. Mann oh Mann, sind die Jungs stark! Durchatmen für uns – es habe gute Verhältnisse, sagen sie. Zwar alles zum Steigeisen klettern – wie erwartet – aber das ist im Winter-Schnee doch angenehmer als im Sommer-Schutt. Das Grinsen in unserem Gesicht wird plötzlich breiter als das Horn nebenan. Aber Achtung: Es seien zwar Spuren drin – doch einige falsche.

Yes, das sind dennoch ziemlich sensationelle Nachrichten für uns! Der wundervolle Zacken, der uns mit jedem Schritt näher rückt, erscheint uns mit einem Schlag in neuem Licht. Nicht mehr ganz so finster. Fotostopp. Wahnsinn. Der helle Wahnsinn umringt uns! Wir lassen den Blick rundherum schweifen auf die Gipfel, die zart orange bis rot leuchten: Dent Blanche, Obergabelhorn, Zinalrothorn, Weißhorn, Mischabelgruppe, Alphubel, Allalinhorn, Rimpfischhorn, Strahlhorn, Nordend, Dufourspitze, weitere Monterosa-Gipfel bis zum Breithorn… Allesamt alte Bekannte, die wie gute Vertraute wirken. Eine goldrichtige Entscheidung, heute hier zu sein! Grinsen-ohne-Ende!

Es ist vor 17 Uhr, als wir bei der renovierten und im Sommer überlaufenen Hörnlihütte ankommen. Der Plan: Andi checkt noch ein erstes Stück des Weges aus, Marlies bereitet das Lager vor – Schneeschmelzen, Schlafsack ausbreiten, Zeug sortieren, Speckbrot richten… (Klischee juchee) Sie erwartet ein astreiner neuer Winterraum – so viele Bergsteiger dürften hier noch nicht genächtigt haben. Moment… Zwei Schlafsäcke liegen hier! Das kommt Marlies spanisch vor – oder eher tschechisch.

Durch die winzige Leiteröffnung (Achtung, akute Steckenbleibgefahr mit Rucksack!) geht’s noch einmal zum Schnee holen nach draußen. Es wird finster. Marlies sieht zwei Stirnlampen 400 Höhenmeter weit oben am Hörnligrat, auf halben Weg darunter tanzt eine dritte hin und her. Das muss Andi sein. Ein leicht mulmiges Gefühl macht sich im Winterraum breit (neben dem Gestank, der aus dem zweiten Raum kommt – denn im Speisezimmerchen ist ohne Fenster direkt das Trockenklo implementiert – eine architektonische Meisterleistung, nun ja… Nicht Jammern! Sogar ein Heizkörper steht hier drinnen. Und ein dreifaches Hipphipphurra: Das Lager kostet nix – im Sommer muss man pro Nacht 150 Schweizer Franken berappen…). Zurück zum (Licht-)Punkt: Ist dort oben etwas passiert? Muss Andi den beiden Spätankömmlingen helfen? Immer wieder ein banger Blick hinauf, aber er weiß, was er zu tun hat… Nach zwei-stündiger Erkundungs-Tour kommt er zurück – und erzählt von zwei Tschechen, die nur noch langsam vorankommen – aber denen zum Glück nichts fehlt. Puh. Und jetzt Pasta.

Irgendwann erhellen uns die beiden Leuchtfiguren den Abend im Winterraum. Zwei fitte Burschen an sich! Neun Stunden haben die beiden für den Abstieg gebraucht. Zu oft verkoffert und zu wenig Kraft übrig. Wir erhalten noch coole Infos über die Verhältnisse. Gepäck abspecken. Nur eine statt zwei Eisschrauben. Die zweite lange Unterhose muss auch nicht mit. Es ist 22 Uhr am 31. Dezember. In Zermatt knallen die ersten Sektkorken. Hier hören wir nichts davon. Wir schlüpfen in den Schlafsack. Und verschlafen den Jahreswechsel. Vielleicht haben wir ja doch einen Knaller…

1. Jänner, 5 Uhr früh. Ein fröhliches Neues! Wir wünschen uns alles, nur keinen guten Rutsch für die nächsten 1200 Hohenmeter. Die zwölfzackigen Eisen montieren wir vor der Hütte an die Füße. Daunenjacke? Ist nicht nötig. Es ist kalt. Aber nicht eiskalt. Ein Blick. Ein Kuss. Los. Heute herrscht hier kein Wettrennen zum Einstieg. Der Berg gehört uns. Ganz alleine. Problemlos der erste Aufschwung am Fels an den Fixseilen. Mann, sind die Dinger dick! Dann wird’s alles, außer langweilig: Es geht über gefrorene Schuttbänder. Wir queren Flanken im Schnee. Stapfen durch das erste Firncouloir, hinein in den Kamin, kurz die Handschuhe weg – ein Zug im zweiten Grat (nur ein Zweier soll das sein?). Brrrrrr… Es ist doch ganz frisch. In die nächste Firnquerung. Links der Felsen, rechts der Firn. Andi bleibt auf Kurs. Vorbei an der Stelle, wo er am Vorabend die Tschechen begrüßte. Über das Japaner Couloir hinweg. Wieder zu dicken Seilen. Es läuft dahin. Voll konzentriert. Bis es plötzlich finster wird.

MIST!
Andis Stirnlampe gibt den Geist auf. Es dämmert erst langsam. Wir haben keine Reservebatterien dabei (warum ausgerechnet heute nicht?), aber immerhin eine kleine Ersatzlampe. Die leuchtet ausreichend. Weiter geht’s. Nächster Zickzack-Kurs. Kombinierter Aufschwung. Der Fels hat einen Hängebauch! Hoch ansteigen im Firn. Hinuntersehen zu den Steigeisen. Beim Tiefblick, den das Morgengrauen in die Ostwand freigibt, rutscht das Herz kurz in die Hose. Was, wenn ich hier abrutsche…? Marlies bittet ums Seil. Das ist unsere Abmachung: Sobald sich einer von uns nicht mehr wohl fühlt beim seilfreien Klettern, geht die Sicherheit vor Schnelligkeit. Und wir sichern die Passagen ab.

Die gelegentlichen Sicherungspunkte sind alle so gut wie schneefrei. Einzig einen Abseilring überzieht eine Eisglasur. Das Gelände – ist anspruchsvoll, aber völlig okay für den Winter. Im Rucksack gefriert uns zwar der Speck im Brot und in der Thermo-isolierten Flasche bildet sich ein Eisklumpen, aber die Körpertemperatur fällt nicht unter einen unerträglichen Wert. Gewaltig – so macht Winterbergsteigen Spaß! Und erst dieses Gefühl jetzt! Die Sonne wandert in unser Gesicht. Während andere von Silvester völlig blau sind, leuchtet ringsum wieder alles in intensivem Orange.

Die Solvayhütte ist in Sicht. Weiter geht’s am laufenden Seil. Andi hat für die Moseleyplatte kaum noch Material übrig, klettert problemlos über eine der felsigen Schlüsselstellen (III-), macht auch Marlies Spaß! Jetzt aber endlich Durchschnaufen bei dem Schutzbunker auf 4003 Höhenmeter. Wir liegen gut in der Zeit. 9 Uhr. Jausenpause. Wir deponieren den Gaskocher. Beißen vom Riegel.

Doch die Kräfte schwinden an dieser magischen Marke. Was haben wir auch für ausgiebige Akklimatisierungstouren unternommen! Achtung, Ironie. Wir hinterfragen kurz und ehrlich, ob die Energiereserven und die Zeit bis zum Gipfel – und wieder hinunter (!) – ausreichen werden. Egal was kommt, beschließen wir – nach zwei Stunden drehen wir um!

Zwei Stunden sind vorbei. Wir sind noch immer nicht oben. Die zum Teil senkrechte Hantelei an den Fixseilen (bei perfekt trockenen Verhältnissen) hat Kraft gekostet. Die brauchen wir aber noch! Dringend! Plötzlich erscheint auf dem Schweizer Gipfel die Bronze-Figur des Heiligen Bernhard. Die paar Meter packen wir noch. Vorsichtige Schritte über das grausige Fels-Schotter-Gemisch hinweg.

Wir können’s nicht fassen. 1. Jänner, kurz vor Mittag. Wir blicken vom Gipfel des Matterhorns (4478 Meter) auf das Wallis und in die Welt. Tränen sammeln sich in den Augen. Ein kurzer Augenblick, aber ein Moment für die Ewigkeit.

Und jetzt kommt die noch größere Herausforderung – der sichere Abstieg. Die ersten 100 Höhenmeter wieder in Slowmotion. Marlies bevorzugt das Schneckentempo, um keinen falschen Schritt zu machen. Immerhin hängt nicht nur ihr Leben am Seil… Meter um Meter geht’s voran. Mal abkletternd, mal ablassend, mal abseilend. Kommt denn die Solvayhütte gar nicht näher?

Endlich. Pause ist nicht drin, wir sehen den Schatten des Matterhorns schon wieder in Richtung Täschhorn wandern, dort verschwindet er in absehbarer Zeit in der Finsternis. Erleichterung. Mit jedem Schritt wird die Luft dicker und wir schneller. Der Weg? Da Spuren, dort Spuren. Folgen wir unserem Gefühl. Abseilaktion in Richtung Ostwand. Zuerst an geklebtem Bohrhaken. Dann an zwei geschlagenen Haken. An nur noch einem Haken. Kein Haken mehr. Dafür ein Felsblock, um den wir das Seil legen. Und wieder abklettern. Jihaaaaa! Zurück auf unserer Spur. Jetzt darf’s auch finster werden. Aber nur nicht zu früh freuen. Weiter konzentriert bleiben. Ein letztes Hinunterhanteln an Fixseilen. Wir fallen uns in die Arme. Etwa 13 Stunden, nachdem wir hier eingestiegen sind. Die Schritte zurück zur Hörnlihütte sind tief erfüllt. Voller Dankbarkeit. Fröhlichkeit. Begeisterung. Glückseligkeit. Die Sterne leuchten vom Himmel. Der Blick schärft die Silhouette des Matterhorns im zarten Mondlicht. Was ist das nur für ein steiler Zahn! Wir! Da! Gerade oben gewesen! Es ist 1. Jänner! Was für ein Traumstart ins neue Jahr…

Es sind Bilder, die wohl nie aus unserem Kopf verschwinden. Danke, dass du mit dabei warst! 🙂

Wie jetzt… Noch immer nicht genug? Solltest du Lust auf noch mehr Matterhorn haben – für die OÖNachrichten hat Marlies ein Bergportrait nach ihrer Besteigung des Nordwest-Grats (Zmuttgrat) verfasst.

Einen Augenblick bitte…