Grand Capucin, alter Kapuziner
Alter Kapuziner!
Für Wikipedia ist er der am schwierigsten zu besteigende Berg der Alpen. Für uns ist der Grand Capucin ein wahr gewordener Klettertraum. Aus dem Gletschermeer des Mont Blancs hebt sich dieser Burj Khalifa aus Granit gigantisch zum Himmel – und die Hölle liegt ihm zu Füßen.
Die erste Schlüsselstelle, die liegt für uns zwischen dem warmen Schlafsack und dem eisigen Wandfuß. Nach einem genialen Aufwärmprogramm an der Südwand der Aiguille du Midi und einem Abendspaziergang über den Cosmiquegrat hat unser Zelt nahe der Cosmiques-Hütte einen soliden Standplatz (auch wenn wir Dumpfbacken eine Zeltstange im Kofferraum vergessen haben…).
Gewöhnen ans Granitgerät, Aiguille du Midi
Rebuffat am Vormittag, Cosmiquegrat am Nachmittag und dazwischen ein Duo im Digital Crack anfeuern
Der einzige Haken…
…an der bisher feinen Sache: Bis zu unserem Traumziel, dem Grand Capucin, liegt der Glacier du Géant mit ungefähr zweitausendsiebenhundertneununddreißig Spalten dazwischen. Wild geschätzt und mehr oder weniger, denn alle sieht man ja nicht – Frau Holle ermittelte vor ein paar Tagen verdeckt und machte diese spät sommerliche Spaltenzone nicht weniger zum Labyrinth. Oder besser gesagt: zum Spiel Minesweeper. Wir fühlen uns ein bisschen wie auf einem Minenfeld – jeder falsche Schritt könnte das Game Over bedeuten.
Nach dem Schreckmoment vor der Dachstein-Südwand vor zwei Wochen, wo die Altschneedecke unsichtbar unterhöhlt war und ich (Marlies) wie aus heiterem Himmel eingestürzt bin, liegen die Nerven auf dem Gletscher zwischendurch blank. So ein Sch…! Die Schneebrücken, über die wir heute gehen müssen, sind noch dünner als jene, durch die ich gebrochen bin. Bei jedem Knacks im Eis fährt mir der Schrecken bis ins Mark. Das Seil ist straff gespannt, unser Nervenkostüm ist es auch. Eigentlich haben wir seit Pakistan genug von wilden und langen Gletschern. Umdrehen? Fragen wir uns das erste Mal ernsthaft, nachdem wir am Blankeis die Spur verloren haben. Eine Querung links. Ein Sprung über die Spalte. Eine lange Querung nach rechts. Irgendetwas zieht uns trotzdem immer weiter durch den finsteren Morgen. Die Vorstellung, in der Nachmittagssonne durch diesen Gletscher zurück zu müssen, ist es mit Sicherheit nicht…
Langsam verschwindet die Nacht, und in der wiedergefundenen Spur auch unsere Sorgen. Bis wir den nächsten vereist fragilen Bruchhaufen neben dem Petit Capucin vor uns haben, durch den wir uns den Weg bahnen müssen, um endlich in den Cirque Maudit zu gelangen. Augen öffnen, Seil spannen, Augen zu… und durch.
Da ist er… endlich! Der Grand Capucin mit seinen stolzen 3838 Metern! Dieser perfekte Turm aus Granit, für den wir diesen miesen Gletscherhatscher auf uns genommen haben. Nur eines fehlt hier – eine Firnrinne links vom Capucin, durch die laut Beschreibungen der Zustieg führt. Übrig ist so spät im August nur ein wüstes Schotterfeld, durch das schon viele Steine gerumpelt sind – und noch viele mehr rumpeln werden.
Alter Kapuziner…
Die Felsstürze und Veränderungen in der Landschaft werden immer krasser, kommt uns vor. Und wo sind die ganzen anderen Kletterer? Am Vortag hätten sich hier sieben Seilschaften angestellt, das erzählte uns ein deutsches Duo, das die Schweizerführe rotpunktete und neben uns bei der Aiguille du Midi zeltete. Und heute? Sind wir – vorerst – alleine.
Einstiegsszenario
Der Tipp unserer Lieblingsnachbarn ist sehr hilfreich: Direkt bei der Randkluft neben der Steinschlagzone geht’s auch am kompakten Felsen zum Losklettern. Perfekte Standplätze lassen uns schnell Meter machen – und nach etwa sieben kurzen Seillängen stehen wir am eigentlichen Einstieg der Schweizerführe. Also etwas daneben – einmal schräg abklettern – und ja: Voie des Suisses, hier sind wir also!
Wahnsinn! Ein rotes Meer aus Granit wallt über unseren Köpfen. Eine Welle der Begeisterung. Risse, Schuppen, Verschneidungen – und oben: ein Dach. Vor uns ein Standplatz, der perfekter nicht sein könnte: zwei Bohrhaken mit einem Kettenglied verbunden. Das gibt auch der Moral Halt in diesem wilden Eck vom Mont Blanc. Meine Vorstiegsmotivation ist am zweiten Tag des Jahres im Granit aber noch ausbaufähig. Anstatt Zeit liegen zu lassen, darf gerne Andi, der alte Yosemite-Routinier, am scharfen Ende des Seils durch die Risse und Verschneidungen cruisen. Und ich mit einem (meist) lachenden Gesicht – und einer noch leicht lädierten Schulter nach meinem Unfall – hinterher.
Grand Capucin, ganz großes Kino!
Boahhhh ey!!! Der erste Riss löst sich schon gut auf. Und dann folgt auf jede schöne Seillänge eine noch schönere. Ein langer Kamin – so ein Feger! Nur vereinzelt stecken Haken, der Rest ist mit Friends zum Selbersichern. Steil, griffig, bombastisch guter Fels. Kurz stellt uns die Wand wieder vor ein Rätsel – und eine geniale Lösung ist gefunden. So macht Klettern Spaß!
Hey Junge!
Siehe da! Hinter uns kommt ja noch eine Seilschaft daher. Julian und Magdalena – lustigerweise zwei Oberösterreicher – sind uns auf den Fersen. Die beiden aus dem Alpenvereins -Team der Jungen Alpinisten nehmen den Grand Capucin auf ihrem Weg zur Kletter-Expedition nach Indien mit. Saustark die zwei!
Fokus nach vorne. Ein richtig knackiger Riss, in dem schon drei Keile bombenfest stecken, führt uns unters Dach. Dafür reicht einfach meine Vorstellungskraft nicht aus, wenn ich dran denke, dass Alexander Huber diese Route free solo kletterte. Hinauf und hinunter.
Grand Capucin, Grande Finale
Anstatt der technischen A0-Variante durch den Überhang zu folgen, queren wir in die O Sole Mio. Da sollte zumindest mehr Freiklettern drin sein. Eine knifflige Wandstelle (sogar angstfrei und mit Bohrhaken abgesichert), ein grenzgenialer Riss – und die letzte Seillänge ist purer Genuss bis auf den Gipfel. Bis zum Finale warmer Fels unter den Fingern. Was für ein Geschenk!
O Sole Mio 🙂
Die kleine Gipfelnadel gehört noch ein paar Minuten uns alleine – und wir können dieses große Kino unter strahlender Sonne genießen. Der Peutereygrat lacht in seiner unglaublichen Dimension zu uns herüber (geh leck… den haben wir wirklich schon gemacht?).
Spitzensache.
Die anderen benachbarten steilen Zacken sind plötzlich nur noch Stecknadelköpfe unter unseren Kletterpatschen. Erste Reihe fußfrei in dieser genial wilden Szenerie. Ein Ozean aus Eis und Schnee unter diesem Meer aus Granit. Wahnsinn! Sagte ich das schon? Unglaublich, dass wir heute hier oben sitzen dürfen. Wir hätten ja schon im Zustieg fast umgedreht…
Jung und höchst aktiv: Magda und Julian
Die beiden anderen stoßen auch zu uns. Immer wieder cool, so motivierte Kletterer zu treffen, die auch ihren Traum leben. Die Abseilerei über dieselbe Route (erst O Sole Mio, dann Schweizerführe) geschieht ratzfatz und ohne große Verhänger (nur ein kleiner).
Am Einstieg geht’s zackig von den Kletterschuhen in die steigeisenfesten Schuhe – und wir Mädels können am Gletscher noch Schnattern, ehe die beiden in Richtung Torinohütte abbiegen. Die Glücklichen… Und wir? Augen wieder zu… die 500 Höhenmeter Gegenanstieg und elendigen Spalten zur Aiguille du Midi wegdenken… und durch.
Einstimmig beschließen wir, dass unsere Dosis an Gletschern für heuer gestillt ist. Es gibt ja noch so viele andere geniale Klettereien in den Alpen – so ganz ohne lange, prekäre Hatscher über Schnee und Eis und Spalten.
Ein Radler und ein Bier warten eisgekühlt auf uns. Vor dem Zelt zischen die Dosen.
Die Sonne verschwindet in diesen Minuten und taucht die Grandes Jorasses in ein sagenhaft schönes Abendrot. „Ob wir jemals durch diese Nordwand klettern werden?“, fragen wir uns grinsend – und grübelnd.
Wir verwerfen diesen Gedanken gleich wieder und huschen hinein ins Zelt und in den Schlafsack. Andi kocht sich noch Asianudeln (eigentlich waren wir seit unserer Pakistan-Expedition weg von diesem Zeug ;-)), und mir fallen gleich die Augen zu. Der Grand Capucin wird zum Traum, der sich tagsüber erfüllt hat – und der Radler über Nacht zum Eisklumpen. Vorm Austrinken bin ich eingeschlafen.
Credits:
www.hochzwei.media / Andreas Lattenr und Marlies Czerny