Die endliche Geschichte
Wenn ein Wunsch endlich Wirklichkeit wird: Die 38 Seillängen der „Ende Nie“ (VII-) laufen besser als erträumt. Nach acht Stunden ist von 1600 Klettermetern kein Zentimeter mehr übrig. Über dicke Bäuche, große Sehnsucht und vergessliche Gehirnzellen. Longlines, wir lieben euch!

Darf’s ein bisserl mehr sein?
Klettern ohne Ende. Jede Minute mit Fels, Freude und Fokus füllen, in ein Flow-Gefühl kippen, im Hier und Jetzt stecken, den Alltag im Tal lassen, den Blick über Berge und Banalitäten schweifen lassen. Longline ist das magische Wort, das unsere freien Sommertage füllt. Wo andere am liebsten wieder aufhören, geht’s dort erst richtig los. Aussteigen aus der Komfortzone, Verantwortung übernehmen, Schwierigkeiten meistern und danach zufrieden auf den Boden der Tatsachen zurückkehren. Ein Gefühl von Sehnsucht und Spannung, von Stärke und Selbstvertrauen. Das ist der Reiz an dieser Geschichte – an der „Ende Nie“.

Ein Lieblingsbuch.
Seit ich mit dem „Vater der Longlines“ Adi Stocker erstmals in den Loferer Steinbergen am Seilende unterwegs sein durfte, ging sie mir nicht mehr aus dem Kopf: die „Ende Nie“. Dieses junge 38-Seillängen-Kaliber auf dem Breithorn zwischen Lofer und Waidring, eine der längsten Klettereien in den nördlichen Kalkalpen, die der Adi 2001 mit ein paar Kletterfreunden gesucht und gefunden hat. In wenigen Jahren hallte das Echo der Marathonroute weit über die Stoaberg‘ hinaus. Dem Ruf der Ende Nie folgten bereits mehr als 300 Seilschaften. Auch bei Andi steht diese Tour seit Jahren auf der Wunschliste. Also nur eine Frage der Zeit, bis wir hier gemeinsam stehen.

Ready!
Wie es mit so langen Touren eben ist: meistens kommt man lange nicht dazu. Vor zwei Jahren parkten wir unser Auto bereits bei Waidring, um dann bei leichter Gewittertendenz doch wieder abzubiegen – in eine kürzere Tour am Wilden Kaiser.
Am Samstag, dem 24. Juni 2017, passt endlich alles zusammen: unser Zeitfenster und das Wetterfenster. Ach herrje, sogar ein kleines Fenster bei meinem ausgedienten Kletterschuh, dem Mythos. Zum Glück ist ein neuer Schuh schon da: der Lowa Rocket, ein scharfes Teil. Aber mit so engen Patschen in eine so lange Tour klettern, das will ich meinen Füßen (und dem Andi) nicht antun (ich verliere nämlich schnell den Spaß, wenn mich der Schuh‘ drückt…), also lieber mit zwei Paaren losziehen. Der Andi ist schmerzbefreiter, er schenkt seinen neuen Raketen vollstes Vertrauen.

Morgens, zwischen fünf und sechs Uhr früh
Den Tag am Breithorn läutet unser Wecker um vier Uhr früh ein. Müsli futtern, Speckbrote schmieren, im ersten Licht losmarschieren. Die Kuhlimuhs an der Metzgeralm haben heuer noch nicht so viele Kletterer vorbei hasten sehen, eine Seilschaft, weiß der Stocker Adi. Wir sind früh dran im Jahr, aber die Bedingungen sind bereits perfekt, wie er uns versichert. Weil die Tour noch nicht lange genug ist, wählen wir im Zustieg das falsche Bachbett. Eine Querung später haben wir ihn aber, den richtigen Graben und den Einstieg über dem letzten Schneefeld. Es ist kurz nach sechs Uhr früh. Auf geht’s!

Im unteren Teil der Route
Der Adi ist ein listiger Hund, denken wir uns schon nach wenigen Metern. Er hat mit seinen starken Männern der HG Stoaberg alles aus dem Breithorn geholt. Anfangs geht’s rechterhand der großen Schlucht den Felsbegrenzungen kletternd entlang. Hier kommt zwar kein Wandgefühl auf, aber der Kletterspaß beginnt – da stören selbst die vielen Quergänge nicht. Einmal gehört sogar sechs Meter Abklettern zum kreativen Aufwärmprogramm.

Die fette Nordostwand des Breithorns: Die „Loferer Bäuche“, die von Bändern gegliedert werden, sind typisch für die Stoaberg und des Kletterers Hürde: Sehr oft ist der erste Zug nach dem gemütlichen Stand auf einem Band der schwierigste. Man muss erst einmal seinen eigenen Bauch über diese Wampen wuchten…
Sehr oft warten schöne Wandstellen – wie hier in der 21. Seillänge (VI+).
Der Schuh hält, die Haut auf den Fingern auch? Der Kalk ist nicht rau, er ist superrau.
Tiefe Wasserrillen, hoher Genuss. Allerdings nur für jene, die bis in den oberen V. Schwierigkeitsgrad mit weiten Hakenabständen gut zurecht kommen.
23. Seillänge („schmerzhaft, rauer Fels“ laut Topo): Nichts für zarte Finger oder schwache Nerven.
In neun Tagen hatten Adi Stocker, Josef Simair und ihre Kollegen 80 Standhaken und 118 Zwischenhaken in die Wand gehievt und gebohrt. Das sind nach unserem Geschmack nicht zu wenige – und auch nicht zu viele (sonst käme man auf dieser Länge mit dem Klinken nicht mehr nach). Wir hängen immer wieder Seillängen zusammen, wo es uns sinnvoll und machbar erscheint, klettern synchron, lassen an manchem Loferer Bauch lieber eine „saubere“ Begehung als viel Zeit liegen. Geschenkt gibt’s die schwierigeren Stellen nicht.

Klettern. What else!?
Wir kommen flott voran, ein erster Blick auf Andis Uhr überrascht uns ein bisschen. Nach vier Stunden haben wir die ersten 23 Seillängen hinter uns gebracht. Sind also eh „nur“ noch 15 Längen übrig 😉

Probier’s mal mit Gemütlichkeit…
Mit der Orientierung kommen wir gut zurecht. Das Topo flattert griffbereit in einer Klarsichthülle an meinem Gurt; Andi glaubt recht früh, den Weg auch ohne zu finden – oder warum hat er es sonst vom Wind davon wehen lassen…? Ein Tipp für den Durchschlupf in der 26. Seillänge: Große Bierbäuche vertragen sich höchstens mit ganz kleinen Rucksäcken.

Der Durchschlupf. Flutscht!
Die Abwechslung zu den ganzen Bäuchen kommt gelegen. Noch ein Steilaufschwung mit kleinem Überhang, ein schöner Piazriss und eine kräftige Rissverschneidung (oh herrlich, jetzt spüren wir die 30 Seillängen schon gut in den Ärmeln) – und hinaus geht’s auf die Schulter in ein langes Gehgelände.

Samstags, 12 Uhr, die Sirene heult
Oh yeah, das haben wir uns verdient! Mittagspause! Auf der Schulter, in der sich wieder einmal eine Ausquerungs- und Abbruchmöglichkeit in die Gjaidstatt bietet, lassen wir uns fallen. Knappe sechs Stunden sind wir bereits am Klettern – und glücklicherweise ist vom Tag noch ganz viel und von der Tour auch noch ein bisschen etwas über (sieben Seillängen – zwei davon im unteren siebten Grad). Doch jetzt zählt mal nur die Aussicht. Und unser Speckbrot. Die Feuerwehr-Sirenen heulen routinemäßig im Tal. Unsere Muskeln brennen auch schon ein bisschen.

Eine paar Nüsse und etwas Schokolade später spazieren wir zur „Headwall“. Hier wartet knackige Kletterei über etwas glatteren Fels. Ein kühles Bier würden wir jetzt schon gerne tauschen mit einer Seillänge. Vielleicht sind wir doch ein bisserl zu lange in der Mittagssonne gehockt…

Die Steinplatte gibt Rückendeckung.
„Des woa jetzt nie a Siebener“, entkommt’s mir, als ich nach der 32. Seillänge bei Andi am Stand andocke – denn so einfach fühlt sich höchstens ein Fünfer an. Ein Blick ins Topo. Ein Blick in die Wand. „Die nächste schaut nach dem anstrengenden Risswulst aus.“ Also wie jetzt? Die VII- haben wir geschwänzt. Irgendwie schafften wir es unabsichtlich, die erste schwierige Seillänge der Headwall zu „überwandern“. Und jetzt: Hawideri! Schon wieder so eine fette Wampe! Schön langsam werden’s langweilig, die Loferer Bäuche. Der Riss gibt für die Hände gar nichts her, beim Ansteigen tritt man in aalglatte Leere, auch Andi zieht sich A0 hoch, die VI+ ist richtig knackig. „Ich scheiß‘ jetzt nicht lange um“, denk ich mir, eine Bandschlinge wird zur Trittschlinge – zack und drüber.
Komisch aber auch, irgendwie werden nach oben hin die Fünfer und Sechser gefühlt einen halben Grad schwieriger (oder doch wir einen halben Grad schwächer?). Immerhin bleibt der Fels konstant gut. Die nächste VII- löst sich wieder besser auf. Die letzte Länge gehört noch mir, ähm wie… Jetzt schon…?

Es wird zach!
„Jihaaaaa!!!“ Der Andi hört mich rufen. Wie geil ist das denn!? Ende Klettergelände!
Ende Nie! Ende doch!

Acht Stunden nach dem Einstieg: beim Wandbuch am Ausstieg. 🙂
Endlos Grinsen!
Das erste Kapitel der unendlichen Geschichte – geschrieben von Adi Stocker und Jos Simair im Jahr 2001.
Die Nummer 324 sind wir – zumindest die im Wandbuch verewigte Nummer 324. Nicht jeder hat hier noch die Kraft und Lust, um ein paar Worte zu hinterlassen.

Es ist kurz nach 14 Uhr – geeeeeile Sache! Wir hopsen noch zum Gipfel des Breithorns (2413 m), genießen die geniale Wolkenstimmung und stellen uns die wichtigen Fragen des Tages: Erst den Kaffee oder erst den Radler?

Auf dem Breithorn.
Das Schrofengelände im Abstieg bringen wir flotten Schrittes hinter uns, wir ziehen zielstrebig zur Schmidt-Zabierow-Hütte hinab. Am Parkplatz im Loferer Hochtal hatten wir uns am Tag davor unsere Fahrräder deponiert, damit wir uns a) das Autostoppen oder b) das kilometerlange Zum-Ausgangspunkt-Zurücklatschen ersparen. Superschlau!? Fast! Denn eine Lektion lernen wir: Wenn man sich ein Radl vorab zum Endpunkt der Tour stellt: den Schlüssel für’s Schloss nicht im Bus vergessen. Andi ärgert sich, ich amüsier mich lieber. Wird uns schon wer mitnehmen!

Labstelle nach dem Marathon.
Auf der gut gefüllten Terrasse der Schmidt-Zabierow-Hütte warten wir auf unseren Kaffee und Kuchen dann sogar länger als am Standplatz auf den Nachsteiger. Schmecken tut’s TAB (Tourenabschlussbier, wie der Stocker Adi zu sagen pflegt) aber richtig gut – und der Marillenkuchen erst! Wir verewigen uns im Hüttenkletterbuch. Nur eines bleibt uns nicht erspart: der Weg zurück ins Tal. Wo sind unsere Gleitschirme, wenn wir sie brauchen…? 😉

Ende nie…
Der Weg zieht sich. Da hilft nur eines: Kopf abschalten, Beine laufen lassen. Kurz vor dem Parkplatz treffen wir eine supernette Bayerin, die bringt uns doch direkt zu unserer Eingangstüre im Hotel California. Den vergesslichen Gehirnzellen zum Dank düsen wir noch einmal zurück und holen die Bikes, bis es endlich Bier und Pasta gibt. 13 Stunden, nachdem wir in die Tour eingestiegen sind, setzen wir unseren Schlusspunkt. Ende gut, alles gut!

Einen Augenblick bitte…