Auf zum Eisexpress – zweimal EXPRESSO, BITTE! Pitztaler Eisexpress
DER PITZTALER EISEXPRESS MIT EINEM EXPRESSABSTIEG: DIE NORDWÄNDE VON TASCHACHWAND (EH NETT), PETERSENSPITZE (DA RUNTER?) UND BROCHKOGEL (DA RAUF?) FÜHRTEN ZU EINEM UNWEIGERLICHEN ABFLUG – ERST IN DIE RANDKLUFT, DANN ÜBER DEN FERNER.
Im Pitztal schauen vor der Wildspitze drei Nordwände zum Tiroler Himmel – diese Aneinanderkettung glücklicher Umstände nennen vertikal geneigte Bergsteiger Pitztaler Eisexpress, ein Tourenportal gar „eine der besten Eiswandkombinationen in den Ostalpen“ (www.bergsteigen.com). Wäre das nicht ein gutes Wadentraining für unseren „Sommerurlaub“, Schatz?
Vier Wände in vier Sätzen
Nach einer ganzen Taschachwand, einer halben Petersenspitze und einem viertel Brochkogel hatten wir uns für einen Express-Abstieg entschieden. Nicht, dass die Quellbewölkung über den Alpenhauptkamm und die Nordwand der Wildspitze schwappt und unseren Abflug vereitelt! Am Ende des Tages sind wir ja doch eines: Faultiere. Und so flogen wir über den Taschachferner und landeten mit den Skiern auf der grünen Almwiese – Herzklopfen inklusive.
Flug über den Ferner
DIE GANZE GESCHICHTE
Im Frühlings-Outfit sind wir startklar am Parkplatz der Pitztaler Gletscherbahnen, die zurzeit dem Frühjahrsputz verfallen sind. Uns drücken rund 18 Kilogramm auf die Schultern – wieder einmal schwer bepackt. Skier, Eisgeräte, genug Futter und unser Gleitschirm SuSi3 sind im Rucksack – das schleppen wir heute bis zum Winterraum des Taschachhauses. Die Skier stehen zu unseren Füßen in einer Art On-Off-Beziehung. Immer wieder müssen wir die Bretter für wenige Schritte abnehmen und tragen, weil der Untergrund von Schnee auf Forststraße, von Schnee auf Wiese, von Schnee auf Brücke, von Schnee auf Frösche, von Schnee auf Schuttmoräne wechselt. Manche Zustiege fallen scheinbar nicht ins Gewicht. Dieser schon.
Frühlingsgefühle.
Bier her!
Im Winterraum werden die Mühen schnell belohnt. Zischhhhhh! Ein paar Bierkisten stehen im Eingangsbereich, sie sind nicht alle leer. Drei Euro pro Flasche wirft man gerne in die Kasse. Dieser Winterraum ist unter allen Winterräumen der Alpen eine Wohlfühloase: Zimmer (drei Lager), Küche (mit Holzofen und G’schirr), Bett (mit Decken und Polster) und Bier wissen wir zu schätzen und zu genießen.
Feiner Winterraum.
Die Lokomotive: Taschachwand
Wir machen es uns drinnen gemütlich, während die Wolken draußen meinen, sie müssen es graupeln lassen. Zwei weitere Tourengeher sind schon seit zwei Tagen hier. Zwischendurch war das Wetter auch schön, sie kommen von der Wildspitze. Als die Wolkendecke aufreißt und ehe wir unter die Bettdecke kriechen, malen wir uns die Route für morgen aus. Taschachwand also. 600 Meter hoch und quasi die Lokomotive vom Pitztaler Eisexpress.
Taschachwand. Unsere Variante.
Einen Nachteil haben Nordwände: Der Bergsteiger wälzt sich aus den Federn, wenn sich der im Tal gebliebene erst durch seine Tiefschlafphase schnarcht. Der sieht dafür solche Bilder nicht live, die wir ab vier Uhr früh erleben dürfen.
Die Taschachwand – ganz nett. Sie wird nie wirklich steil und auch nie schwierig. Nur das letzte Fünftel gestaltet sich mühsam: Bruchharsch auf Gries – da wird jeder Schritt ein großer Durchbruch. Ziemlich grundlos das Ganze. Aber jetzt gibt’s nur noch eines: Hinauf. Schnauf.
ÜBER LICHT UND SCHATTEN
Bald fallen sie mir ins Gesicht, die ersten Sonnenstrahlen des Tages. Ein Highlight jeder Nordwand-Tour!
(Ein Highlight, wenn man sich – wie wir – kurz vor dem Ausstieg befindet. Sonne + Nordwand = an sich keine gute Idee – außer man steht auf Rolling Stones)
Der orange Pinselstrich hat los gemalt. Selbst ist man nur ein Pünktchen in der riesigen Wandschaft, äh Landschaft.
Come on baby, light my fire!
Nach der langen Taschachwand wandern wir auf kurzem Grat. Die Nordwand der Petersenspitze (rechts im Bild von der Sonne bescheint) ist der zweite Zug des Eisexpresses, den lassen wir aber freiwillig abfahren. Wir finden’s nicht ganz so interessant, über die Wechte rund 50 Höhenmeter abzusteigen, um uns dann im Schnee wieder hinauf zu wühlen. Wir bleiben lieber auf dem Grat – die schönere Linie für uns.
Schneller als sein Schatten. Andi setzt die letzten Schritte zum recht unscheinbaren Gipfel der Petersenspitze (3472 m). Rechts der Hüfte: der Brochkogel. Links davon: die Wildspitze.
SCHWUPPS. WEG WAR ER.
Auf der Petersenspitze beraten wir uns. Wir stehen hier auf 3472 Meter über dem Meer. Bei (fast) Windstille. Nur die Minuten verfliegen. Was, wenn wir die Gunst der Stunde nützen und gleich einen Abflug machen mit unserem Gleitschirm? Es ist erst neun Uhr morgens. Noch so viel über vom Tag! Eine Entscheidung fällt uns schwer. Dann diese Worte: „Damit wir die beiden Eisgeräte nicht umsonst herauf geschleppt haben…“ Weiter zum Brochkogel! Dort haben unsere Quarks vielleicht mehr zu tun – bisher diente zumindest eines als Wühlstock. Nun denn: Auf zum dritten Streich.
Der Brochkogel. Klingt irgendwie schon nicht so geil.
Wir nähern uns der Brochkogel-Nordwand an, steigen so weit als möglich mit Skiern auf, bis wir umrüsten auf Steigeisen und Eisgeräte. Andi steht 40 Meter rechts von mir. Und schwupps: Weg ist er. Wie vom Erdboden verschluckt. Das gibt’s doch nicht?! So schnell kann er ja nicht umgerüstet haben und aus meinem Blickfeld verschwunden sein!? Andi? Andiiiii?
AAAAANNNNDDDDIIIIIII!!!!????
Meine Augen mustern den Gletscher, aber kein Andi. Keine Antwort. Ich realisiere: Wo er soeben noch stand, erkenne ich die Umrisse einer Randkluft. Und ein Loch. Verdammt. Das darf jetzt doch nicht wahr sein!? Das Seil, das hat er im Rucksack. Ich atme schneller, aber ich funktioniere doch langsam und bedacht. Ich schalte sofort mein Handy an. Geb‘ die Harscheisen auf die Skier. Richte mir meine Reepschnüre zurecht. Gehe vier Schritte hinüber – und ich atme auf.
Kleine Spalte, großer Schreck
Fluchend kommt Andi zum Vorschein. „Dieser verdammte Pickel!“ Ausgerechnet wenn man ihn brauche, bleibe er am Rucksack hängen, erklärt er mir. Sonst wär‘ er da sofort heraus gekommen. Und ich muss innerlich lächeln – nach dem Schock meines Lebens einen stinkwütigen Freund zu erspähen. Oh Schatz, ich liebe dich! Ja, dieser depperte Pickel! Einen Meter war Andi eingebrochen – in eine kleine Randkluft, nach unten geschlossen. Für diesen riesengroßen Schrecken hat das trotzdem gereicht.
Wer brocht diesen Kogel…
Ich schlage vor, dass wir den Brochkogel doch Brochkogel lassen – so attraktiv wirkt seine Nordwand ja ohnehin nicht. Aber weil wir schon hier sind… und die Eisgeräte so weit getragen haben… Gehen wir noch ein paar Meter. Doch der erneut grundlose Schnee unter einem Harschdeckel lässt uns bald eine Entscheidung treffen: Das macht keinen Spaß. Kommando retour.
So als ob es ein Wink des Schicksals ist, kriechen die ersten Quellwolken über die Wildspitze. Der Gipfel ist bereits verhüllt. Dabei sind wir gerade dabei, zu ihr aufzusteigen, um uns im großen Kar unter dem Gipfel für einen Gleitschirm-Start in Ausgangsposition zu bringen. Südostwind ist nicht die beste Richtung, die wir uns für diese Tour wünschen – wir möchten nach Norden starten – und beim Starten sollte der Wind von vorne kommen. Rückenwind also. Gut für Radfahrer. Schlecht für Paragleiter.
GUT GEGEN OSTWIND
Wir drehen wieder um auf unserem Weg zur Wildspitze. Der Nebel sitzt uns im Nacken. Herrje… Die Chancen auf den Abgleiter sehen wir schwinden. Wir hasten zurück zur Petersenspitze, überlegen Startmöglichkeiten in Richtung Osten. Wir warten mit dem Wind, spüren ihn, beobachten die Quellwolken, wir stellen Überlegungen und Berechnungen an: Kann sich das ausgehen? Dass wir hoch genug über den Gletscherbruch gleiten? Wahrscheinlich! Ziemlich sicher! Aber ein „ziemlich sicher“ ist mir ziemlich zu wenig.
Eine Idee haben wir noch: kurz unterhalb der Petersenspitze bei leichtem Rückenwind zu starten. Das macht man normalerweise nicht. Unser Hilfsmittel: Die Skier, mit denen wir schneller Fahrt aufnehmen und der Kappe genügend Wind von vorne geben können. Dabei haben wir noch genug Auslauf, den Start abzubrechen. Bis der flache Hang steiler wird und in Felsabbrüche übergeht. Herzklopfen! Das ist unsere Chance!
Wir machen uns bereit, doch der Rückenwind wird stärker. Ich werde zuerst starten. Das ist mir lieber – da kann mir Andi, der viel erfahrenere Pilot von uns, noch den Schirm halten und richten, sollte ihn wieder eine Böe über den Haufen werfen. Gefühlt stehe ich eine halbe Stunde wie festgewurzelt, Andi hinter mir. Ich fühle den Wind auf meiner Haut, nehme jede Veränderung wahr. Er wird stärker. Schwächer. Jetzt könnt’s gehen! Aber die Phase ist zu kurz. Bitte warten. In-sich-gehen. Erneut weht er für fünf Sekunden nur leicht. „Ich fahr jetzt“, sag‘ ich zu Andi. Und skate los mit großen Schritten. Der Gleitschirm steigt langsam und formschön über meinen Kopf. Er schwebt über mir, während ich fahre. Und fahre. Die Klippe kommt näher. Ich fahre. Ich fliege.
ICH FLIEGE!!!
Was für ein grenzgeniales Gefühl. So easy war dieser Start, die richtige Sekunde abgewartet!
Yeah! Ein Rückblick auf die Taschachwand, wo dieser spannende Tag begann.
Ich gleite über den Taschachferner (oder was davon noch übrig ist).
In 20 Minuten vom weißen Gletscher auf die grüne Almwiese zu gelangen, das ist immer wieder ein unfassbar starkes Gefühl!
Zur Nachahmung sei jene kleine Wiese bei der Taschachalm nicht empfohlen – starker Lee-Einfluss durch den Talwind. Wir kamen gut zu Boden – das ist keine Selbstverständlichkeit. Entweder in Mittelberg landen (wir hatten nicht genug Höhe dafür) oder weiter taleinwärts.
Mit Ski auf die Wiese – eine sanfte Landung. Nur für einen Krokus nicht… Sorry!
Andi landet wenige Minuten später neben mir. Er radiert noch kurz über die Forststraße – die Skier zeigten sich aber nicht angekratzt. Wir packen den Schirm – und sind zehn Minuten später zurück am Parkplatz.
Wir trinken auf einen tollen Flug und die gute Landung. Hochalpine Starts sind immer wieder eine spannende Sache – denn die offenen Fragen werden erst zweitausend Höhenmeter weiter unten beantwortet:
Wie stark wird der Talwind wehen?
Wo findet man eine gute Landemöglichkeit?
Und ist das Bier im Bus gut gekühlt?
PROST! 🙂