Der Traum wäre fast vor dem ersten Schritt geplatzt. Doch wir erarbeiten uns die Aiguille Jardin (4035 m) auf die harte Tour.

Als wir am Donnerstag auf dem Refuge Couvercle einchecken, lacht uns der Hüttenwirt aus. „Aiguille Jardin? Impossible!“, sagt er uns knallhart ins Gesicht. Unsere Vorfreude rutscht unter Meeresniveau, der Wind wird unseren Segeln genommen. Das wäre doch unser Auftakt gewesen für diese beiden Westalpen-Wochen, auf die wir uns schon ein Jahr lang freuen! Wollen wir doch jene vier Viertausender der Alpen besuchen, auf denen Marlies noch nicht gestanden ist. Die Aiguille Jardin ist eine davon. Eine, auf der generell ganz wenige Alpinisten vorbeikommen. Seit etwa zwei Monaten sei niemand mehr auf der Jardin gewesen, merkt der Hüttenwirt an. Die Verhältnisse auf diesem 4035 Meter hohem Rechtsaußen des Aiguille-Verte-Massives seien miserabel.

Wir steigen vor dem Abendessen noch ein paar Meter hinauf, wo wir einen Blick in die Route erhaschen. Wir möchten gerne selber ein Urteil fällen. Schaut tatsächlich unmöglich aus. Zumindest auf der Normalroute. Der Sommer hat dem Firncouloir seine weiße Auflage genommen. Ein Sand-Schotter-Gemisch mit ein paar Schneeresten und Eisflächen ist übrig. Nichts, das man gerne hinauf stapfen würde. Außer, man hat mit seinem Leben abgeschlossen. Haben wir aber nicht.

Planänderung

Anstatt tags darauf auf die Aiguille Jardin loszustürmen, legen wir einen Erkundungstag ein. Hat auch ein Gutes: Frühstück erst um vier Uhr Früh anstatt um Mitternacht. Dreieinhalb Stunden später stehen wir am Wandfuß der Aiguille Jardin. Normalweg? Ausgeschlossen. Der Bergschrund? Unüberwindbar. Wir sehen weiter rechts eine Linie über das erste Schneefeld, die uns machbar erscheint. Und einen Weiterweg entlang der schwach ausgeprägten Felsrippe. Wobei es der Fels eher locker nimmt. Andi kundschaftet noch die ersten 100 Höhenmeter aus. Marlies hat ihren Helm vergessen und bliebt lieber herunten… „Sieht ganz gut aus!“, sagt Andi retour. Wir erinnern uns an andere Touren, die noch brüchiger, noch schwieriger, noch aussichtsloser erschienen. Und überhaupt: Was haben die Erstbegeher früher gemacht? Was uns ebenfalls Hoffnung gibt (und sonst ein Ausschlusskriterium wäre): Die Steinschlag-Gefahr erscheint im Gegensatz zum Whymper Couloir gleich null. Wir spüren neuen Mut! Und haben bei diesem Plan ein sehr gutes Bauchgefühl.

Kurzer Schlaf, langer Tag

Unser gutes Bauchgefühl bekommt im Zustieg etwas Schmerzen. Wir vernehmen auf der benachbarten Aiguille Verte Stirnlampen. Das sind doch nicht etwa die zwei Seilschaften von gestern…? Doch. Sie sind demnach schon mehr als 24 Stunden am Moine-Grat unterwegs. Ungeplant. Ein Grat, der laut Hüttenwirt zurzeit zwar keine guten Verhältnisse aufweist, aber möglich sei. Nach etwas Zeit sind wir uns endlich sicher, dass diese Stirnlampen kein Notsignal absetzen. Sonst wären wir zurück zur Hütte geeilt und hätten Alarm geschlagen. Ah ja übrigens: Den langen Moine-Grat von der Aiguille Verte (der noch eine Überschreitung über die Grande Rocheuse voraussetzt) haben wir als Abstiegs-Alternative im Hinterkopf. Den Biwaksack haben wir ja eingepackt…

Mit dem ersten Licht steigen wir nach zweieinhalb-stündigem Gletscher-Zustieg in unseren Spuren von gestern. Ohne viele Worte zu wechseln, wir sind bei jedem Schritt höchst konzentriert. Nach dem Übergang in den Fels (oder sollen wir eher Schottersch… sagen?) steigen wir wie auf Samtpfoten weiter. Zumindest ein paar festere Felsen geben sicheren Halt. Wir kommen gut voran. War doch auf den Dames Anglaises am Peuterey-Grat noch wilder – und das Täschhorn war auch ähnlich? Erfahrungen stärken uns. Über das ausgeaperte Couloir sichern wir eine Seillänge und kommen schön langsam auf die Originalroute.

Die erwischen wir in perfekten Bedingungen. Die Kletterei (bis IV, kommt uns aber schwieriger vor) fordert uns. Die Luft wird dünner und nur selten heben wir unseren Blick auf das Ambiente rundherum. Das ist einfach nur zum Niederknien! So wunderschön! Genießen können wir das nicht. Der Grat zieht sich in die Länge, bis wir nach dieser fünf Stunden langen Kletter-Konzentrations-Übung den Gipfel der Jardin erreichen. Wahhhh! Wie cool! Können wir uns freuen? Leider nein, die Freude ist auf Sparflamme. Es flackert das mulmige Gefühl auf, dass der Abstieg nicht weniger anspruchsvoll wird. Im Gegenteil.

Durchatmen

Nach weiteren fünf Stunden ist uns endlich zum Durchatmen. Wir seilen uns 60 Meter über den Bergschrund zurück auf den Gletscher. Dazwischen liegen vorsichtiges Abklettern und dutzende Abseilmanöver mit vielen strategischen Gedanken (Wo können wir das Seil gut abziehen, ohne dass es hängen bleibt? Wo sind wir keinem Steinschlag ausgesetzt? Welchen Zacken können wir als Abseilständen vertrauen? Seilen wir mit beiden Seilen ab oder nur 30 Meter? Welche Schlinge lassen wir zurück? Halten jene, die wir gerade gefunden haben?…)

Zurück bei der Hütte blickt uns der Wirt mit großen Augen an. Er freut sich, uns (so früh) wiederzusehen, und sagt, wir hätten eine neue Route eröffnet… Wir verneinen, haben wir doch viele Schlingen vorgefunden. Die seien von den „Strahlern“, den Bergkristall-Suchenden, sagt er. Kaum zu glauben. Dort oben ist also wirklich ein wertvoller Flecken Erde.

Glaub’ an dich!

Wir haben glänzende Aussichten aus dem Hüttenfenster und lassen bei einer Flasche Rotwein diesen 15-Stunden-Arbeitstag Revue passieren. Wir werden Marlies‘ 79. Viertausender nicht als schönste Tour in Erinnerung behalten. Aber als weitere Tour, die wir nie vergessen werden, die wir gemeinsam gemeistert haben, die uns als Alpinisten reifen lässt und die uns vor allem eines zeigt: Verliere nie den Glauben. Auch wenn andere sagen, dass es unmöglich ist.