Grat-Gaudi ober Gurgl
Zwischenstopp in Obergurgl: In den Alpen gibt’s noch so viele coole Ecken, die wir für uns erst entdecken. Weit hinten im Ötztal, zwischen Ramolkogel und Zirmkogel, stoßen wir auf einen XXL-Grat, der vor allem eines kombiniert: Genuss und Einsamkeit.
>> Werbung: Wir wurden von Ötztal-Tourismus schon vor längerer Zeit eingeladen, eine Hochtour rund um Obergurgl zu unternehmen. Endlich die Zeit dafür gefunden! Statt eines Hotels bevorzugten wir aber doch lieber unser neues mobiles Zuhause. 😉
Obergurgl putzt sich heraus für die Wintersaison.
Es muss ja nicht immer Liebe auf den ersten Blick sein. Diese überfällt vielleicht die Wintersportler, wenn sie in Obergurgl ganz freudig vom Auto auf die Skipiste hüpfen. Aber im Sommer? Da putzt sich das Tiroler Bergdörfchen heraus, damit es im Winter schön glänz. So vermischt sich auf gut 1900 Metern über dem Meeresspiegel Kuhglockengebimmel mit dem Sound der Bauarbeiter. Es betten sich Gerüste an die Hotelmauern und Kräne und Bagger an die Bergflanken. Die lassen weit hinten im Talschluss mit ihren Gletschern aber verheißungsvoll ahnen, dass sich hinter dieser Fassade wohl doch noch mehr verbirgt.
Die Vogelperspektive wird’s zeigen
So stolpern auch wir von unserem Bus fast direkt auf die Piste. Wiesengrün und Kuhfladenbraun ist sie an diesem Augusttag. Ja mei! Zum Ankommen und Gegend überblicken stört es uns gar nicht, einfach der planierten Wanderstraße zur Hohen Mut zu folgen.
Gleitschirmflieger sind ja doch ein kleines bisschen Taktiker: Die Windprognose ist wankelmütig – sollte unser Abflug abgeblasen werden, schweben wir ganz einfach mit der einzigen Gondel ins Tal, die auch im Sommer in Betrieb ist. Und irgendwie ist es für mich (Marlies) auch ein Testflug nach meinem Abflug durch die Altschneedecke am Fuße der Dachstein-Südwand. Wird mein Körper bei diesem Ausflug ins gelobte Tiroler Land Einspruch erheben?
Hochbetrieb auf der Hohen Mut
Hey wow! Schon nach dem halben Hike und noch ohne Fly zeigt Obergurgl, was es abseits der gesicherten Skipisten zu entdecken gibt: Eine dreieinhalb Tausend Meter hohe Bergwelt tut sich auf, deren Gletscher (zumindest jetzt noch) frech ihre Zungen zeigen.
Es fühlt sich doch wie ein Privileg an, noch Zeitzeuge des Gurgler Ferners und seiner eisigen Nachbarn zu werden. Auf der Hohen Mut tummeln sich die Bahnfahrer im Bergrestaurant. Ein paar Schritte oberhalb auf der Graskuppel lassen wir den Blick 360 Grad rundum wandern über dutzende Dreitausender, die hier direkt oder knapp neben dem Alpenhauptkamm zum Himmel gipfeln. Seelenkogel, Hochwilde, Ramolkogel – zugegeben: Noch nie etwas von denen gehört! Ein paar sind richtig hübsch anzusehen – und bestimmt auch zu besteigen.
Tierisches Treiben auf der Hohen Mut
Packen wir’s!
Neben der neugierigen Schäfchen-Herde, die Andi zu ihrem neuen Hirten auserwählen, machen wir einen Abflug.
Vor Augen haben wir jenen gewaltig langen Gratkamm vom Nederkogel bis zu den Kogeln oberhalb des Ramolhauses, den wir uns prompt für morgen ins Visier nehmen.
Ein langer Kamm ober Gurgl. Ganz links im Bild die Firmisanschneide, ganz rechts der Nederkogel.
Auf der Westseite des Gurgler Tales – wo sich die Berge nicht liften lassen müssen – stellt sich dieser Bergrücken bis zu 3550 Meter hoch über Obergurgl, so als wolle er es vor Vent und seiner Wildspitze abschirmen. So schnell ist eine neue Idee geboren! Wir wissen ganz wenig, aber hoffen sehr viel.
Nach unserer Landung auf einer Wiese zwischen der Gurgler Ache und den Hotelburgen packen wir unseren Schirm zusammen und den Rucksack komplett neu.
Die liebe SuSi darf morgen nicht mit, der Föhn ist zu stark und für die Schirm-Schlepperei am langen Grat fühle ich mich ohnehin noch zu schwach. So leicht? So leicht! Der etwas lädierte Oberkörper freut sich. Im Vergleich zu den meisten Westalpen-Hochtouren können wir für unsere morgige Tour abspecken. Seil? Ja. Gurt? Ja. Steigeisen? Ja. Die ganz leichten. Mobiles Sicherungszeug? Nö. Eisschrauben? Nö. Pickel? Ach… nö. Die Gletscher auf unserer Route werden sich nur noch auf Reste beschränken.
Kurze Zeit später nehmen wir den hübschen, Tal eingangs verlaufenden Weg zum Ramolhaus unter die leichten Bergschuhe. Der Wirt heißt uns in seiner vollen Hütte erst nicht ganz so freundlich willkommen. Den ganzen Tag hatten wir niemanden erreicht zum Reservieren, aber schließlich doch unser Glück versucht.
Wir hätten uns schon auf den Boden eingestellt, aber bekommen doch noch zwei freie Betten. Im Laufe des Abends wird das Grinsen in seinem Gesicht wieder breiter. Und wir – Westalpen-Hütten-erprobt (oder mitunter geschädigt) – können nur staunen, welchen Komfort und welche Sauberkeit wir am Ramolhaus finden. Fließend Wasser! Warmes Wasser! Saubere WCs! Auf die man sich sogar zu setzen wagt! Frühstück erst ab sechs Uhr früh! Ausgeschlafen sein!
Easy going!
Als wir in der warmen Stube vor einer Tasse Kaffee in unser Schinken-Käse-Brot mit Gurkenscheibe und einer Tomaten-Spalte beißen, geht die Sonne auf.
Vor der Hütte darf die Jacke gleich wieder ausgezogen werden. Ein Schild und gute Pfadspuren weisen uns den Weg in Richtung Ramoljoch. So ein Genuss! Wieso haben wir denn nicht schon viel früher mit Dreitausender-Sommer-Hochtouren angefangen? 😉
Grottenschlecht oder himmlisch gut?
Die Steigeisen und das Seil dürfen es sich sogar im Rucksack bequem machen, als wir über die flachen Ausläufer des Ramolferners schreiten. Kleine Spalten sind zu sehen, aber nicht dort, wo wir hinwollen.
Das Ramoljoch schaut eher mittelhübsch aus. Dass durch diesen Bruchhaufen sogar rote Punkte navigieren, sehen wir erst später. Uns lacht ohnehin mehr die überfirnte Scharte zwischen Mittlerem und Nördlichem Ramolkogel an. Und einer erstrahlt in der Morgensonne auch recht verführerisch. Ja was, wenn wir dieses Gratstück auch noch mitnehmen? Die Chancen stehen 50:50: Es könnte grottenschlecht werden. Oder himmlisch gut.
Grat ohne Gruselmoment
An der niedrigsten Stelle zwischen Kleinem und Mittleren Ramolkogel steigen wir über eine kurze Schutthalde auf. So schlimm wie mein Blick war’s gar nicht 😉
Wir werden vom ersten Schritt weg überrascht. Positiv überrascht! So eine nette Kletterei! Es ist doch immer wieder die beste Mentalstrategie: Wenn man bei der Felsqualität vom Schlimmsten ausgeht, kommt’s immer besser. Und das ist tatsächlich gut. Auch wenn’s nicht immer so aussieht.
Spätestens alle 20 Meter blitzen sogar immer wieder Bohrhaken vom Fels oder eingebohrte Sanduhrschlingen zeigen die Richtung. Frisch und fröhlich und mit warmen Händen (das Ostalpen-Hochtouren wird uns immer sympathischer ;-)) cruisen wir vor uns hin. Es wird nie schwieriger als kurz einmal im III. Grad. Genuss pur! Damit es dabei bleibt, packen wir an einem ausgesetzten Felsturm kurz das Seil aus, um uns zehn Meter abzuseilen. Ein Grat ganz ohne Gruselmoment.
Bella Italia! Jawoi Tiroi!
Schon bald kommen wir beim Steinmännchen am Mittleren Ramolkogel an. Wah! Dieser Ausblick!
Die graublau schattierten Bergsilhouetten in Richtung Süden fangen lange unseren Blick. Bella Italia!
Die Obergurgler Dreitausender haben den allerbesten Logenplatz. Zwischen den Dolomiten-Zacken wabern kleine Wölkchen. Ob sich die heute noch zusammenbrauen und herüber schauen?
Und auf der anderen Seite unseres Grates stehen die prominentesten Ötztaler Parade: von der Hinteren Schwärze über die Weißkogel bis zur Wildspitze.
Jawoi Tiroi!
Zum maximalen Genuss gesellt sich kurz minimale Sorge. Wirklich verlockend sieht unser weiterer Gedankengang – dem ganzen Kamm bis zum Zirmkogel oder vielleicht sogar bis zum Nederkogel zu folgen – irgendwie doch nicht aus. Sondern eher bröselig, blockig, brüchig…
Grat. Genuss? Oder besser Schluss?
Ähhhm… vielleicht doch auf der Hütte einen dritten Kaffee schlürfen?
Allez hop!
Aber siehe da: Fröhlich hopsen wir den Grat abwärts und ein paar Steigspuren und Steinmännlein später geht’s schon wieder aufwärts.
Am Nördlichen Ramolkogel treffen wir auf andere Bergsteiger: von Senioren bis zu einer Familie.
Schnell sind wir in der Firnscharte und cruisen weiter auf den Nördlichen Ramolkogel. Hier überholen wir noch eine Seniorengruppe und treffen eine Familie beim herausragenden Gipfelkreuz, das keinen Jesus angenagelt hat, sondern einen silbernen Globus als Herzstück trägt.
Das ist der Gipfel! Des Nördlichen Ramolkogels.
Ab jetzt wird’s einsam. Für die nächsten fünf Stunden und fünf Kilometer haben wir nur ein Programm: Gratcruisen und Gipfelhopsen. Und ganz viel Gegend schauen. Ein Auf und Ab immer direkt am Grat – und ein Dauerhoch beim Genuss. Die richtige Taktik ist ganz schnell gefunden:
Bleibst direkt am Kamm, bist fest wie ein Stamm – gehst rein in die Flanken, kommst mit dem Fels ins Wanken.
Early bird.
Vor uns liegen auch immer wieder Strecken mit reinem Gehgelände, in denen wir flott Meter machen. Und immer bevor es fad wird, kommen an der richtigen Stelle wieder die Hände zum Einsatz. Den Weg muss man nicht suchen – nur vereinzelt vor breiteren Felsaufschwüngen findet ihn der Instinkt.
Das Rätsel und die Lösung
So macht ein Grat richtig Spaß: Immer, wenn man sich beim Raufklettern denkt: Uhhje, wo soll’s denn da jetzt bitte weitergehen? Kommt schon die Lösung in Sicht, wenn man die nächsten Schritte macht.
Qualitätskontrolle: Mangelware
Immer näher kommen wir dem Bergdörfchen Obergurgl – das trifft sich gut, denn immer müder werden auch wir. Leider wird in der letzten Etappe zwischen Gampleskogel und Zirmkogel das Gestein doch dubioser und unser detektivischer Blick muss noch wachsamer werden.
Hier bleibt kaum ein Stein auf dem anderen.
Einen senkrechten Gratteil im Abstieg vom Gampleskogel umgehen wir – in Abstiegs-Blickrichtung rechts – in den abschüssigen Felsflanken. Und im finalen Aufschwung zum Zirmkogel drücken wir bei der Felsqualitätskontrolle ein paar Augen zu und freuen uns, dass wir endlich unseren letzten Höhepunkt erreichen. Lang war’s! Gut war’s!
Die Sonne neigt sich schon in Richtung Westen. Und wir beobachten die Föhnmauer, die gegen den Alpenhauptkamm drückt. Den Schwaden, die schleierhaft herüberziehen und sich wieder verdünnisieren, könnten wir stundenlang zusehen. Machen wir aber doch nur eine Packung Mannerschnitten und zwei Müsliriegel lang, weil vom Weg ins Tal doch noch gut 1300 Höhenmeter übrig sind und von unserem Trinken gar nichts mehr.
Wir können uns nicht erinnern, wann wir zuletzt „sooo viel“ Abstieg gehend und nicht fliegend bewältigen mussten. Zwar nicht heute bei diesem Föhn, aber sonst wär’ der Zirmkogel mit seinem Gletscherchen ja ein feiner Startplatz, wie die liebe ulligunde schon erlebt hat. Immerhin bleibt der Weg schön abwechslungsreich – und kurz vor der Seenplatte können wir aus einem Bach Wasser schlürfen.
Der Abstieg ist belämmert. Und wunderschön.
Dann halt mal wieder aus der Schäfchen-Perspektive absteigen – und die Lämmer meckern lassen.
Eine genaue Tourenbeschreibung findet ihr auf alpenvereinaktiv.com.