Luna Nascente
Die TRAUMLINIE LUNA NASCENTE, DER AUFGEHENDE MOND (6B+): DER FIXSTERN IM ITALIENISCHEN GRANITPARADIES VAL DI MELLO HAT UNSEREN HOHEN ERWARTUNGEN NICHT STANDGEHALTEN. ER HAT SIE ÜBERTROFFEN.
Mit Berühmtheiten ist es so eine Sache: Man liest viel über sie, hört einiges, reimt sich selber noch etwas dazu – und sollte der Ist-Zustand nicht dem Wunsch-Bild entsprechen, ist die Chance für eine Enttäuschung groß.
Die Luna Nascente, der Kletter-Klassiker im Val di Mello, hat großes Potenzial, eine deftige Desillusion zu werden. Von vielen Seiten in den Himmel gehoben, ein „Must-Climb“, das wissen nicht nur wir, das weiß jeder, der in San Martino sein Auto parkt. Und das sind an diesem Frühsommertag ganz schön viele Leute.
Malerisch schön: Hätte Picasso nicht Gemälde, sondern Kletterlinien gemalt, wär ihm wohl dieser Strich ausgekommen. Die Luna Nascente folgt nach einem Einstiegsboulder unglaublichen und abwechslungsreichen Risssystemen, bis sie den Klettertraum auf einer nicht mehr absicherbaren Moralplatte enden lässt. Für manche soll hier schon ein böses Erwachen gekommen sein.
Das Tal und der Mond
Auf ins Granitparadies
Seit ich Andi kenne, träumt er von einem Ausflug ins Val di Mello, diesem Granitparadies im südlichen Bergell. Weil wir bei unserem Westalpen-Trip Anfang Mai nach der Blüemlisalp-Überschreitung genug vom Skischleppen haben und sich auch über Chamonix die Wolken verdunkeln, planen wir eine Reise ins Tessin und weiter nach Bella Italia ein. Sole! Pizza! Cappuccino! Vino Rosso! Roccia! Einzig: Unser Sonnen- und Zeitfenster ist nicht groß. Welche Tour könnten wir uns da bloß vorknöpfen…?
Parkverbot im Paradies.
Bis wir vor dem (richtigen) Einstieg stehen, sollten noch eineinhalb Tage vergehen. Val Masino, Val di Mello, Val di Zocca – überall Wände, da will sich der geneigte Kletterer erst einmal den Überblick verschaffen. Wir docken am Campingplatz Ground Jack an und stürzen gleich rein ins vertikale Vergnügen. Bach, kleine Brücke, links rauf. Na logo! Nach einer Stunde finden wir uns zwar in einem beschriebenen schönen Buchenwald wieder, aber im falschen. Wie deppert sind wir denn bitte…? Wäre unser Blick bloß über die ersten Granitwände hinausgegangen. Die Euphorie machte blind… Wieder runter, inneren Kompass einnorden, auf ein Neues. Statt zum Qualido wollen wir doch zum Dimore degli Dei, dem ersten Wandaufschwung unter dem Scoglio delle Metamorfosi, durch den die Luna Nascente führt.
Nichts als Granit
VOLLMOND
Bach, kleine Brücke, links rauf. Jetzt aber. Wir legen noch einen Umweg ein, klettern im Zustieg die „Albero delle Pere“ (6a). Vom Ausstieg nur noch eine kleine Waldwanderung zur Luna. Der Einstieg ist nicht zu verfehlen: Es ist mittlerweile mittags, ein Mann steigt gerade in den Mond ein, eine weitere Seilschaft ist in der zweiten Seillänge unterwegs, eine weitere in der vierten… So voll der Mond! Laut Wetterbericht könnte es der Himmel spätnachmittags aber noch ordentlich krachen lassen. So schön kann keine Route der Welt sein, hier noch aufzuschließen 😉
Weil sich der Traum der Luna aber doch in allen Gehirnsynapsen festgesetzt hat, verstecken wir unser Kletterzeug nahe am Einstieg, damit wir am nächsten Tag unbeschwert direkt darauf loszielen können. Die erste Seillänge (6b) bouldern wir uns gleich noch aus, damit auch hier keine böse Überraschung mehr kommen kann.
Der Mond ist anfangs noch finster. Rechts oben im „Boulderproblem“ der ersten Seillänge.
MONDLANDUNG
Neuer Tag, neues Glück. Oder Pech? Sieben Uhr früh. Vier weitere zielstrebige Weggefährten machen uns im Zustieg irgendwie leicht nervös. So früh so viele Leute? Gehen die auch schnurstracks zur Luna? Wohin denn sonst. Nicht schon wieder. Hm. Leicht bepackt sind wir immerhin einen Tick schneller und starten als Erstes los. Die Nachkommenden gleich hinterher. Diese Traumtour vor Augen und sich dabei stressen lassen? Keine Lust darauf. Hinten anstellen? Darauf auch nicht.
Ein kräftiger Zug am Einstieg – und hinein in den ersten Riss. Er quert, teilweise hauchdünn, unter einem Dach hindurch. Hier muss man ziemlich untergriffig werden, um die Bodenreibung nicht zu verlieren (6a+). Lässt sich einfacher (und schneller) A0 lösen. Mag ja niemanden bremsen!
Zweite Seillänge
ER GEHT AUF.
Ab der dritten Seillänge wird es einfacher, alpiner – und entspannter. Der Stressfaktor weicht dem Spaßfaktor. Von der nachkommenden Seilschaft ist nichts mehr zu sehen. Nichts als Granit. Einfach klettern. Luna Nascente. Der Plan mit dem Mond geht auf.
Ein Riss heller Freude.
Prächtig zum Piazen.
Perfekt zum Absichern.
Diese Linie – ein Traum.
Jede Seillänge überrascht und begeistert uns aufs Neue. Die Risse lassen sich zu einem Großteil richtig gut absichern. Die tadellosen Standplätze würden auch einer harten Mondlandung standhalten. Im oberen Drittel sind die Standhaken sogar mit neuen Schlingen versehen. Könnten die vom Vortag stammen, als nachmittags noch der Regen kam…? Eine leise Vermutung. 😉
Genuss im Granit.
MONDSÜCHTIG
Wir klettern schlafwandlerisch vor uns hin, genießen jeden Kletterzug. Der Fokus liegt in den wenigen Zentimetern, die sich der Riss vor uns öffnet. Und sucht doch wieder das Weite – der Blick wandert ins Tal. Köpfelt in den türkisblauen Bach, streift über sattgrüne Wiesen. Wir haben es gefunden, unser kleines Kletterparadies.
Unten Tal, oben wir – das lob‘ ich mir!
„Andi, du hast a Exe vergessen!“
Ein Riss bis zum Himmel.
Der Riss wird immer dünner, bis keine Fingerkuppe mehr hineinpasst.
Dann eben noch mit määääächtigem Runout in zwei Seillängen über die abschließende Platte cruisen.
Mondgesicht. Schon hungrig?
Der strukturlose Abschluss macht uns auch nicht mehr platt – wir haben bis zum Ende der Tour eine Mondsfreude. Genießen die Aussicht, hocken hier wie zwei frisch Verliebte. Den Abstieg machen wir schnell ausfindig – bis wir plötzlich zwischenstoppen: Schau, die zwei! Wir nehmen die Seilschaft hinter uns in den Fokus – eine schöne Perspektive.
Hier stecken die Finger der Nachsteigerin in einem futzikleinen Riss. Dann kommen die finalen zwei Seillängen. Noch ein Blick zurück.
Retour am Campingplatz starten wir unser Après-climb-Programm: Chillen, Radler schlürfen, den neuen Griller einweihen. Weil wir Würschtln versäumt haben, uns mit Fleischigem einzudecken, gibt’s gleich mal eine Portion für die Gesundheit. Macht nicht ganz so glücklich, was allerdings am Griller liegt: Diese Konstruktion finden wir zum Schmeißen. Die Gemüsespieße müssen wir noch in der Pfanne nach brutzeln. Morgen gibt’s wieder Pizza… und übermorgen auch (wir sind doch in I-t-a-l-i-e-n!!!)
Und dann kam der Regen. Wir flüchten ins Sarcatal.
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Marlies Czerny
Credits:
www.hochzwei.media / Andreas Lattner und Marlies Czerny